Noch einmal Glück gehabt

Seit einem Jahr schiebt Luise das Problem vor sich her, doch langsam drängt die Zeit. Das Kind, das im Nu auf jeden Baum klettert, ohne mit der Wimper zu zucken Regenwürmer küsst und im Wasser Purzelbäume schlägt, als wäre dies die natürlichste Sache der Welt, fürchtet sich nämlich davor, vom Sprungbrett zu springen. Schon unzählige Male war sie oben, aber immer, wenn sie springen sollte, macht sie einen Rückzieher. Im Sommer konnte sie sich noch damit trösten, dass ihr ja noch Zeit bleibe bis zum nächsten Schwimmkurs, doch jetzt hat der Schwimmkurs begonnen und Luise weiss genau, dass sie das Abzeichen nur bekommt, wenn sie springt. Ausserdem ist der FeuerwehrRitterRömerPirat auf Aufholjagd und Luise hasst nichts so sehr, wie vom kleinen Bruder überholt zu werden. Also muss sie springen, und zwar bald.

Was bedeutet, dass ich sie motivieren sollte. Und so wartete ich heute im Sprungbecken mit ausgebreiteten Armen auf meine mutige Luise, bereit, notfalls nach ihr zu tauchen, aber innerlich wohl wissend, dass tauchen nicht nötig sein würde, da sie es ohnehin schaffen würde. Wenn sie denn den entscheidenden Schritt ins Leere wagen würde. Doch mit jedem Anlauf wuchs Luises Angst, nach drei abgebrochenen Versuchen wagte sie nicht einmal mehr, vom Rand aus ins Wasser zu hüpfen.

Was bleibt Mama da anderes übrig, als selber zu springen, um dem Töchterlein zu beweisen, dass das alles gar nicht so schlimm ist? Und um ihr das Versprechen abzuringen, dass sie dann auch springt. Zu dumm nur, dass Mama schon von Höhenangst geplagt ist, wenn sie auf dem Trottoirrand geht. Aber was soll’s: Mütter sind zu allem fähig, wenn es unbedingt sein muss. Und so wage ich mich, zum ersten Mal seit etwas zwanzig Jahren, wieder auf ein Sprungbrett. Verdränge die Angst vor der Höhe, die Panik vor dem letzten, entscheidenden Schritt, den Horror vor dem Aufprall. Und ich springe. Zweimal. Und finde es cool!

Das muss Luise unbedingt auch erleben. Weil sie sich aber immer mehr versteift, greife ich zur Bestechung. Falls sie springe, bekomme sie die sündhaft teure Handpuppe, die sie sich schon so lange wünscht. Luise strahlt – und springt nicht. Währenddem sie danach im Schwimmkurs alles schön brav macht, wie es die Lehrerin will, zerbreche ich mir den Kopf: Wie soll ich „Meinem“ beibringen, dass die Not so gross war, dass ich Luise diese Puppe einfach versprechen musste? Welchen Betrag muss ich wöchentlich auf die Seite legen, um das Geld zusammenzubekommen, ohne das Haushaltsbudget zu sehr zu belasten? Wie kann ich verhindern, dass Luise jetzt doch noch springt? Sie könnte ja noch ein Jahr warten, dann hätte ich das Geld vielleicht zusammen.

Schliesslich erlöst mich Luise aus meinem Dilemma. „Mama“, fragt sie mit sehnsüchtigem Blick, „wann bekomme ich endlich dieses Haarband, das ich mir schon so lange wünsche?“ „Wenn du springst.“, schlage ich vor. Und bevor Luise etwas einwenden kann, erkläre ich ihr, dass es doch viel besser wäre, sich die Puppe zu Weihnachten zu wünschen, weil man ja da die ganz grossen Geschenke bekomme. Luise lässt sich auf mein Spiel ein, aber ich muss ihr hoch und heilig versprechen, dass sie die Puppe zu Weihnachten bekommt.

Wann liegen endlich diese Spielwarenprospekte mit den Wunschzetteln im Briefkasten? Die Zeit drängt, wenn ich Luise noch vor Weihnachten einen billigeren Herzenswunsch schmackhaft machen will…

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