Das muss jetzt einfach mal raus

Der einen oder dem anderen werde ich mit diesen Zeilen auf die Nerven fallen – sofern sie überhaupt jemand liest. Eigentlich widerstrebt es mir auch, nach langen Jahren des Schweigens so viel Persönliches preiszugeben. Und mir ist auch voll und ganz bewusst, dass gesunde Menschen nicht gerne über Krankheit nachdenken, erst recht nicht über Covid. Dennoch muss ich hier einfach mal etwas loswerden:

Jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen, wo in den Medien wieder Interviews über neue Varianten gebracht werden und wo von vielen Experten beschwichtigend verbreitet wird, es bestünde überhaupt keine Gefahr, müsst ihr euch einer Sache bewusst sein: An Long Covid denkt dabei keiner, denn Long Covid ist auch für die meisten Experten unsichtbar.

Sie sehen nicht, wie wir, die wir niemals hospitalisiert waren, nach einer „milden“ Infektion nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Wie wir Nacht für Nacht ums Einschlafen ringen. Wie wir, wenn uns dann doch irgendwann der Schlaf gegönnt ist, morgens kaum mehr wachzukriegen sind. Wie wir selbst nach einer guten Nacht mit ausreichend Schlaf jeden Morgen wie erschlagen sind.

Sie beschreiben unseren Zustand als Fatigue und fügen nicht erklärend hinzu, dass dieses Gefühl von Erschlagenheit so viel mehr ist als blosse Müdigkeit. Dass jede noch so simple Tätigkeit davon durchzogen ist. Dass auch die erholsamste Erholungspause keine Erholung davon verschafft. Dass wir an den meisten Tagen selbst die schönen Dinge wie einen Kaffeeklatsch, einen Filmabend oder einen kurzen Spaziergang nicht schaffen, weil sie zu viel Kraft kosten.

Sie sagen, wir litten unter „Brain Fog“ und machen sich keine Vorstellung davon, wie entwürdigend es sich anfühlt, mitten im Satz banalste Worte nicht über die Lippen zu bringen. Wie schmerzhaft es ist, wenn sich auf dem Nachttisch all die guten Bücher stapeln, von denen man nicht mehr als ein, zwei Seiten am Stück lesen kann. Wie eingesperrt man sich fühlt, wenn man für jede kleinste Besorgung auf Chauffeurdienste angewiesen ist, weil die mangelnde Konzentration weder Velo- noch Autofahren zulässt. Kleine Besorgungen übrigens, die nur dann möglich sind, wenn vorher und nachher genügend Erholungszeit drinliegt, weil der Kopf mit den vielen Sinneseindrücken auf dem Weg und im Laden nicht klarkommt.

Diese Experten widersprechen nicht, wenn der Interviewer zu ihnen sagt, die schlimmen Long Covid-Fälle hätten sich doch ereignet, als noch keine Impfung zur Verfügung gestanden hätte. Sie könnten einwenden, viele von uns seien voll geimpft nach „mildem“ Omicron erkrankt, aber das wissen sie vermutlich gar nicht, denn die eine oder andere Studie kommt ja zum Schluss, die Impfung senke das Long-Covid-Risiko ein wenig. Und darum tun sie weiterhin so, als bestünde nur für ein paar wenige Vorerkrankte eine Gefahr.

Sie sagen, irgendwann würden wir uns wieder erholen. Ganz falsch ist das nicht; manchen von uns geht es ja tatsächlich irgendwann etwas besser. Viele aber kämpfen auch noch ein, zwei, drei Jahre nach der Infektion mit den gleichen Symptomen. Und weil wir halt leider keine schönen Geschichten von einer ganz plötzlichen Genesung über Nacht zu erzählen haben, gehen wir irgendwann vergessen.

Sie sagen, im Gegensatz zum Pandemiebeginn gebe es heute doch so viele Anlaufstellen, wo wir Hilfe bekämen. Dass wir dort nicht viel mehr zu hören bekommen als „Irgendwann wird‘s dann schon wieder“, lässt sie offenbar kalt. Dass man uns mit einer Verordnung für Physio- und Ergotherapie, aber ohne Medikamente, ohne Therapieempfehlungen und ohne Hoffnung wieder nach Hause schickt, scheint sie nicht zu interessieren. Vielleicht trösten sie sich aber auch mit dem Wissen, dass ja zumindest einige wenige von uns das Glück haben, bei einer engagierten Ärztin untergekommen zu sein, die bereit ist, alles zu probieren, was der bisherige Wissensstand zu probieren erlaubt.

Wobei sie unsere Bereitschaft, alles auszuprobieren, was nur irgendwie Linderung verspricht, ziemlich verurteilenswert finden. Wer bereit ist, Unsummen zusammenzukratzen für eine Therapie, deren Wirksamkeit bloss anekdotisch ist, kann doch nicht recht bei Trost sein. „Wie können die nur?“, fragen sie entrüstet. „Die Wissenschaft ist doch dran, Lösungen zu finden. Warum sind die bloss so ungeduldig?“

Ja, warum nur? Was stört uns denn so sehr daran, nach jedem Termin ausser Hause zwei, drei, vier Tage Erholung in reizarmer Umgebung zu brauchen, damit wir wieder so halbwegs funktionieren? Auf dem Sofa ist es doch so bequem!

Was ist denn so schlimm daran, nicht mehr in die Ferien fahren zu können? Zu Hause ist es doch auch schön!

Warum beklagen wir wenigen Glücklichen, die wir dank Home Office noch arbeiten können, uns auch, der Job fresse die ganze spärliche Energie auf? Arbeiten ist doch eine erfüllende Sache!

Was vergiessen wir auch bittere Tränen, wenn wir auf Social Media sehen, wie unsere Freundinnen, Verwandten und Arbeitskolleginnen das Leben geniessen? Dort, wo sie sich aufhalten, müssten wir ja doch nur aufpassen, uns das Virus nicht wieder einzufangen!

Was jammern wir auch über die Krankenkasse, die uns fast nichts von alldem bezahlt, was wir einwerfen, um uns irgendwie Linderung zu verschaffen? Wir könnten ja auch einfach dankbar dafür sein, wie breit das Sortiment an Mittelchen, die wir ausprobieren können, inzwischen ist.

Und überhaupt, unser ewiges Gejammer ums Geld, was soll das überhaupt? Seien wir doch froh um die teuren Stützstrümpfe, die für einen besseren Blutfluss sorgen; um die Putzfrau, die bereitwillig jede Woche den Dreck wegputzt, den wir nicht mehr wegputzen können; um die Taxis, die einen an jeden beliebigen Ort karren, wenn laufen nicht mehr geht. Solche Mehrausgaben trägt doch jedes Familienbudget mit Freuden, wenn‘s der Gesundheit dient!

Warum um alles in der Welt weigern wir uns so standhaft, uns von den Gesunden Ratschläge erteilen zu lassen? Die Homöopathin, die dem Nachbarn der Cousine des ehemaligen Arbeitskollegen bei seinem Beinbruch so gut geholfen hat, kann doch bestimmt auch etwas gegen Long Covid ausrichten! Das wird ja wohl kaum so schwer sein …

Was beklagen wir uns auch, die Krankheit vermiese uns die besten Jahre unseres Lebens? Immerhin leben wir noch!

Man mag sich fragen, warum ich das alles schreibe. Will ich etwa um Mitleid heischen? Nein, will ich nicht, auch wenn ich offen gestanden in den letzten 518 Tagen mehr als einmal ins Selbstmitleid abgerutscht bin. Mir ist trotz allem bewusst, wie privilegiert ich neben den vielen Unglücklichen auf dieser Welt noch immer bin.

Der Grund, warum ich einen Crash riskiere, um über sehr persönliche Dinge zu schreiben, die ich eigentlich lieber für mich behalten würde, ist ein anderer: Ich möchte euch vor Augen führen, warum ihr das, was mein Leben aus der Bahn geworfen hat, um keinen Preis haben wollt.

Fatigue, Brain Fog, Belastungsintoleranz – das alles mag harmlos klingen, ist aber die Hölle.

Selbst dann, wenn man, wie ich, jeden Tag noch ein paar halbwegs gute Stunden hat.

Darum meine verzweifelte Bitte, jetzt,wo die Zahlen wieder steigen: Passt auf euch auf. Und falls es euch doch erwischt, gebt es so wenig weiter wie möglich. Bitte glaubt mir, ihr wollt WIRKLICH kein Long Covid haben.

Etwas Neues

Schreiben geht ja jetzt offenbar wieder. Darum habe ich beschlossen, etwas Neues anzufangen: Texte im gleichen Stil wie bisher, jedoch mit mehr Garten und weniger Familienalltag.

Warum weniger Familienalltag? Weil die Kinder – und damit auch ich – aus dem Mamiblog-Alter herausgewachsen sind und es schlicht und ergreifend nicht mehr so viel Skurriles zu erzählen gibt. Weil ich nicht auch noch damit anfangen muss, online über unseren ziemlich ereignislosen Corona-Alltag zu jammern. Und weil es jetzt einfach Zeit ist.

Warum mehr Garten? Weil es in diesen Zeiten, in denen wir Tag für Tag so viel Elend in unsere Timelines gespült bekommen, einfach guttut, den Blick hin und wieder auf die schönen Dinge zu lenken. Weil ich denke – und das klingt jetzt furchtbar kitschig – dass jedes Blümchen, jeder Baum und jede Tomatenpflanze diese Welt zu einem besseren Ort machen. Und weil ich am liebsten über die Dinge schreibe, die mich gerade beschäftigen.

Darum wird es auf dieser Seite wohl auch in Zukunft nicht mehr allzu viel neuen Lesestoff geben. Dafür aber geht es hier weiter. Ich freue mich, wenn einige von euch auch am neuen Ort mitlesen.

Kleinkram

Corona hat etwas bewirkt, was ich nach all den Jahren des Familienlebens nicht mehr für möglich gehalten hätte: Der ganze Kleinkram, der tagtäglich von diversen Schulen, Freizeiteinrichtungen, familienergänzenden Betreuungseinrichtungen und Vereinen in unser Haus gespült wird, landete öfter mal bei „Meinem“. Zum ersten Mal in unserem Familienalltag verteilte sich die berühmt-berüchtigte Mental Load mehr oder weniger gleichmässig auf unser beider Schultern.

Dies, weil ich mich in jenen ersten verrückten Wochen im März tagelang oben in meinem Büro einbunkerte, um mit meiner Arbeit irgendwie fertigzuwerden, während „Meiner“ sich unten am Esstisch parallel um seine Schulklasse und um die unterschiedlichsten Bedürfnisse unserer Kinder kümmerte. Und auf einmal war möglich, worum wir uns vorher jahrelang vergebens bemüht hatten: „Meiner“ wurde von diversen Lehrpersonen und Schulsekretärinnen zur ersten Ansprechperson im Hause Venditti befördert.

Die Infos über Stundenplanänderungen, vergessene Hausaufgaben und ins Wasser gefallene Schulschlussfeiern wurden auf einmal an ihn adressiert, die Online-Trompetenstunde des FeuerwehrRitterRömerPiraten fand auf seinem iPad statt, die Klavierlehrerin teilte ihm mit, welche Stücke das Prinzchen üben sollte. Als der Bundesrat die ersten grossen Lockerungsschritte verkündete, war der Gipfel der Gleichstellung erreicht: „Meiner“ wurde Teil einer Gemeinschaft, die Vätern hierzulande in der Regel nicht offen steht, er wurde aufgenommen in den Organisations-Chat für eine Geburtstagsparty. Und das alles ganz ohne mein Wissen; von der Fete erfuhr ich erst, als das Geschenk gekauft und die Tasche zum Übernachten gepackt war.

Ich war tief beeindruckt – und erlebte zum ersten Mal, wie schön das Leben sein kann, wenn solche Dinge einfach irgendwo im Hintergrund an einem vorbeiziehen, ohne dass man sich um sie kümmern muss. Von mir aus könnte es immer so weitergehen.

In gewisser Weise tut es das auch, denn so kurz vor Schuljahresende ändert kein Schulsekretariat die Kontaktlisten, die Infos kommen weiterhin zuverlässig bei „Meinem“ an. Und bist du erst mal in einem Organisations-Chat drin, wandert deine Nummer automatisch in den nächsten weiter, wenn in ähnlicher Zusammensetzung etwas Neues geplant wird.

„Meiner“ weiss deshalb, dass Zoowärters Klasse nun doch noch einen Schulausflug macht, er hat den Überblick, zu welchen Geburtstagspartys das Prinzchen eingeladen ist und was sich das Geburtstagskind wünscht, er hat sich notiert, wann der FeuerwehrRitterRömerPirat, der weiterhin bloss nachmittags Schule hat, ausnahmsweise schon am Vormittag antraben muss. Und weil „Meiner“ sich inzwischen daran gewöhnt hat, sich ganz alleine um solche Dinge zu kümmern, bleiben alle diese Infos auch bei ihm. So habe ich weiterhin nicht die leiseste Ahnung, was in den nächsten Tagen alles auf dem Programm steht und reibe mir verwundert die Augen, wenn plötzlich einer sagt: „Mama, ich brauche noch einen Zmittag für die Wanderung morgen. Und weisst du, ob der Schlafsack schon gewaschen ist? Den brauche ich nämlich für die Übernachtung in der Schule.“

Manchmal erfahre ich von einer Sache sogar erst, wenn es schon zu spät ist, nämlich dann, wenn „Meinem“ im Trubel etwas Wichtiges untergegangen ist und ich deswegen eine verärgerte Therapeutin oder einen enttäuschten Musiklehrer am Telefon habe. Denn „Meiner“ mag inzwischen zwar auf jeder Mailingliste als Kontakt aufgeführt sein – auf sämtlichen Notfallblättern steht weiterhin meine Nummer zuoberst. Und so landet jeder Rüffel bezüglich unseres elterlichen Versagens zuverlässig bei mir.

Mag unsere Welt auch noch so sehr ins Wanken geraten, diese eine Gewissheit bleibt: Läuft etwas schief, ist Mama schuld.

Phantom-Käfer

Wie oft uns der Magen-Darm-Käfer heimgesucht hat, als unsere Kinder noch kleiner waren? Keine Ahnung. Gefühlt habe ich Jahre damit zugebracht, Erbrochenes aufzuwischen, magenschonende Kost zuzubereiten, mitten in der Nacht Betten frisch zu beziehen und mit dem armen FeuerwehrRitterRömerPiraten zur Kinderärztin zu rennen, weil der Durchfall einfach kein Ende nehmen wollte. Kaum hatte der Letzte die Sache durchgestanden, fing der Erste wieder von vorne an und waren wir endlich einmal käferfrei, sorgte irgend ein Gast für Nachschub – und schon ging es wieder los mit der Kotzerei.

Überbieten sich Eltern in einer fröhlichen Runde gegenseitig mit ekelerregenden Kleinkind-Geschichten, kann ich meistens bis ganz am Schluss mithalten, denn unsere Kinder haben in dieser Hinsicht wirklich gar nichts ausgelassen. Und natürlich spielte auch ich immer wieder gerne mit. An den einen Nachmittag, an dem mich der Käfer erwischte, bevor „Meiner“ zu Hause war, erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Winselnd wand ich mich auf dem Fussboden und zählte die Minuten bis zum Schichtwechsel, während meine Knöpfe – leider nach überstandener Seuche schon wieder quietschfidel – um mich herumwuselten. Einer der tiefsten Tiefpunkte meiner Mutterkarriere.

Solche Erfahrungen hinterlassen natürlich ihre Spuren. Wenn, so wie heute, Luise nach dem Abendessen meint, ihr wäre ein wenig übel, rebelliert umgehend mein Magen. Sagt Karlsson darauf: „Mir ist auch nicht so ganz wohl“, beginnt es in meinen Gedärmen zu rumpeln. Und wenn dann noch das Prinzchen verkündet, er wolle lieber auf seine Schokolade verzichten, er verspüre einen Brechreiz, dann beginnt in meinem Kopf alles zu drehen und ich bekomme weiche Knie.

Ob ich etwa auch krank werde?

Aber nicht doch! Nach ein, zwei Stunden geht es mir wieder blendend. Ich habe nur mal wieder diesen Phantom-Käfer eingefangen, der mir bei gewissen Stichworten im Eilzugtempo das altbekannte Programm abspielt und so dafür sorgt, dass ich auch jetzt, wo ich allmählich mit einer gewissen Sentimentalität auf die Kleinkindertage zurückblicke, nicht gänzlich vergesse, wie elend es zuweilen sein konnte.

Insider bestätigt: Es sind alles nur Phasen

Landauf, landab trösten Eltern, deren Kinder mal wieder spinnen, einander mit diesem einen Satz: „Es ist bestimmt nur eine Phase.“ Egal, wie lange der Ausnahmezustand auch dauern mag, wir alle halten uns mit dem Gedanken über Wasser, dass sich eines schönen Tages alles wieder wie von Zauberhand einrenken wird und wir endlich aufatmen können. Zumindest, bis die nächste Phase kommt…

Aber stimmt das auch wirklich? Immerhin mahnen zahlreiche Pädagogen, Psychologen und Psychiater, man solle die kindliche Entwicklung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Was in jungen Jahren schief laufe, lasse sich später überhaupt nicht oder nur noch mit grösster Mühe korrigieren. Darf man da einfach alles, was uns Eltern nicht vollends in die Knie zwingt, als Phase abtun?

Man darf.

Dies zumindest schliesse ich aus dem, was mir neulich das Prinzchen – also ein Insider in Sachen Kindsein – ganz offen gestand: „Ich war ja sowas von blöd“, sagte er neulich, als ich wissen wollte, weshalb er plötzlich all seine Möbel, Schuhe und Kleider, die er in den vergangenen Monaten mit wasserfesten Stiften fantasiereich verziert hatte, sauber zu schrubben versuchte. „Warum denn?“, wollte ich wissen. „Na ja, du weisst doch, ich hatte da diese dumme Phase, in der ich alles angemalt habe. Und jetzt kriege ich das Zeug nicht mehr sauber.“

Da haben wir es also: Es sind tatsächlich nur Phasen.

Und fast noch tröstlicher ist, dass die Knöpfe, wenn sie die Sache mal hinter sich gelassen haben, selber den Kopf schütteln ob ihrer Verrücktheiten.

Normal?

Auf diesem Planeten leben unglaublich viele kluge, beeindruckende und ganz und gar nette junge Menschen. Daneben gibt es in der Generation unserer Kinder – genau wie in jeder anderen Generation – ein paar Vertreter, die einen an der Menschheit zweifeln lassen. Leider hatte ich in letzter Zeit gleich mehrmals das Pech, mit solchen Jugendlichen im Bus zu sitzen.

Da war zum Beispiel die junge Frau, die sich in der Stosszeit demonstrativ so hinsetzte, dass der Fensterplatz zu ihrer Rechten frei blieb. Die alte Dame, die es wagte, sich an ihren Knien vorbei zu zwängen, um den einzigen freien Platz im Bus zu ergattern, bedachte sie mit giftigen Blicken. Den alten, zittrigen Mann, der sich ein paar Schritte von ihrem bequemen Sitzplatz entfernt mit beiden Händen an der Stange festklammerte, um bei der nächsten Kurve nicht hinzufallen, ignorierte sie geflissentlich. Auch dann noch, als eine Passagierin sie darum bat, den Sitzplatz doch bitte freizugeben. Ungerührt bliebt sie sitzen und scrollte durch ihre Nachrichten, während der alte Mann sich nach Kräften darum bemühte, auf beiden Füssen zu bleiben und sich dabei nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm das alles zusetzte.

Da war der Rotzbengel, der sich mit seinen Freunden laut vernehmlich über „diese elenden Schleiereulen“ lustig machte – wohl wissend, dass eine junge Frau mit Kopftuch keinen Meter von ihm entfernt stand und jedes einzelne seiner verächtlichen Worte verstehen konnte.

Da war die frischgebackene Berufsfrau, die mit unverkennbarem Stolz verkündete, sie sei doch nicht so doof wie alle anderen. Von den acht Arbeitsstunden, die sie täglich zu leisten habe, sei sie allerhöchstens drei oder vier Stunden produktiv. Mehr könne man von einem Menschen wirklich nicht erwarten.

Da waren die zwei Halbstarken, die laut herumpöbelten und für alles, was weiblich ist, nur ein einziges F-Wort kannten – und zwar nicht dasjenige, das mit F beginnt und mit -rauen endet.

Alle diese jungen Menschen hatten eins gemeinsam: Sie hatten es irgendwie fertig gebracht, durch die Volksschule zu kommen, eine Lehrstelle zu ergattern oder bereits einen Abschluss in der Tasche zu haben. Sie alle hatten in einem Bewerbungsverfahren Konkurrenten ausgestochen, weil jemand sie für kompetenter als andere gehalten hatte.

„Na und, das kann dir doch egal sein. Die führen sich im Berufsleben bestimmt ganz anders auf als nach Feierabend im Bus“, wird man mir jetzt sagen und mit grosser Wahrscheinlichkeit stimmt das auch.

Dennoch sind solche unfreiwilligen Begegnungen an manchen Tagen nicht nur schwer auszuhalten, sondern einfach nur schmerzhaft.

Zum Beispiel, wenn der Sohn einen Termin bei der Berufsberatung hat und dort gesagt bekommt, sein Zeugnis würde in einem Lehrbetrieb nicht mal angeschaut, damit habe er nicht die geringste Chance. Ein Zeugnis, wohlgemerkt, das detailliert aufzeigt, dass der Junge dank fleissigem Einsatz auf gutem Weg ist, von der Sonderschule aus den Anschluss an die Berufswelt zu schaffen. Dieser Junge, der schon zahlreiche Schwierigkeiten gemeistert und dabei gelernt hat, trotz so mancher Demütigung anständig zu bleiben, darf sich anhören, man sehe ihm seine Einschränkung halt schon ein wenig an, die Stellensuche werde sich da leider schwieriger gestalten als bei einem „normalen“ Jugendlichen.

Der Junge hat diese Aussagen zum Glück einigermassen gut weggesteckt. Und weil er von seinen Lehrerinnen und anderen Fachleuten gut begleitet wird, besteht die Hoffnung, dass er seine Nische finden wird.

Dennoch tun solche Sätze weh.

Erst recht, wenn der Eindruck davon, wie sich einige dieser „normalen“ Jugendlichen aufführen, noch so frisch ist.

Novembergärtnern

Laut Wetterprognose sollte es regnen – doch der Himmel ist blau, nur ab und zu ziehen Wolken vorbei. Gartenwetter also.

Ob ich eine Jacke brauche? Na ja, vielleicht die leichte Strickjacke. Mehr wäre übertrieben.

Lautes Vogelgezwitscher in Nachbars Tanne, Feuerwanzen halten zwischen üppig blühenden Dahlien ihre Versammlung ab, eine einsame Libelle verirrt sich ins Blumenbeet.

Ich schaue nach, was die Kürbisse machen. Das vielversprechendste Exemplar ist den Nacktschnecken zum Opfer gefallen. So ein Mist, ich hatte gedacht, aus dem könnte noch etwas werden. Damit der Eisbergsalat nicht das gleiche Schicksal erleidet, ernte ich ihn fürs Mittagessen – und bringe gleich ein paar gierige Nacktschnecken um die Ecke, die auf das zarte Grün lauern.

Der Kakibaum lässt endlich die Blätter fallen, die Früchte aber warten vergeblich auf den ersten Frost und drohen zu faulen. Vielleicht sind sie auch einfach nur verwirrt – wo doch gleich neben dem Baum eine einsame Nachtkerze vor sich hin leuchtet, als wäre es ein lauer Juliabend. Auch der Phlox mag sich partout nicht von seinen letzten Blüten trennen und die Veilchen führen sich auf, als spürten sie den Frühling.

Ich buddle Blumenzwiebeln in die Erde. Man hat sie mir im Baumarkt fast gratis hinterher geschmissen, weil sich ausser mir keiner mehr in die Gartenabteilung verirrt. An der Kasse wirft man mir schräge Blicke zu, weil ich meinen Einkaufswagen mit Erde beladen habe – und nicht mit Dingen, die sich anständige Leute um diese Jahreszeit eben kaufen: Duftkerzen, Schneeketten, Holz für den Kamin und Weihnachtskram, der den kahlen Garten schmücken soll.

Aber die Gärten sind nun mal nicht kahl, also kann mich auch keiner davon abhalten, ein paar Rosenstöcke zu pflanzen, Rittersporn, Malven, Fingerhut und Katzenminze – was die Katzen, die ohnehin schon überdreht sind, vollends um den Verstand bringt.

Allmählich wird mir warm. Nicht nur vom Schleppen und Buddeln, auch die Sonne trägt ihren Teil dazu bei. Es wäre eben doch ohne Strickjacke gegangen. Wie gut, dass gelegentlich ein kurzer Regenschauer für etwas Abkühlung sorgt.

Aber warum erzähle ich das alles überhaupt? Wen interessiert denn schon, was ich an einem ganz gewöhnlichen Apriltag mitten im November in meinem Garten so anstelle?

Gute Geschäfte

Weil ich mich geweigert habe, ein Kässeli aufzustellen und statt dessen meine überzähligen Tomatenpflanzen verschenkt habe…

… weiss jetzt nicht nur, dass in unserem Quartier Menschen leben, die ich zuvor noch nie gesehen habe, ich weiss auch, dass die meisten dieser Menschen ausgesprochen nett und tomatenliebend sind.

… kenne ich endlich all die herzigen kleinen Kinder aus der Nachbarschaft, denn sie kamen immer und immer wieder angerannt, um zu fragen, ob sie vielleicht noch ein Pflänzchen haben dürften. Sie hätten noch soooooo viel Platz im Garten.

… kam auf unserem Parkplatz zuweilen richtig Stimmung auf, weil sich auf einmal ganz viele interessante Menschen gleichzeitig um den Pflanzentisch scharten.

… sah ich endlich alle meine tomatenliebenden Freunde wieder, für die im randvollen Alltag leider viel zu wenig Zeit bleibt.

… stand am Morgen manchmal ein fremdes Pflänzchen in meinem Gewächshaus, weil jemand sich erkenntlich zeigen wollte, ohne erkannt zu werden.

… durfte ich ein andermal einen riesigen Bund Rhabarber in Empfang nehmen, weil der in meinem Garten so schlecht gedeiht.

… konnte ich dem Spendensammler einer grossen Umweltschutzorganisation glaubhaft machen, dass ich eigentlich auch ohne seine Belehrungen schon ziemlich grün unterwegs bin – was ihn natürlich nicht davon abgehalten hat, mir trotzdem eine Spende abzuschwatzen.

… stiegen mir bei zwei Gelegenheiten beinahe die Tränen der Rührung in die Augen. Das erste Mal, als eine alte Frau sich überschwänglich dafür bedankte, dass ich mir Zeit für einen Schwatz mit ihr genommen hatte. Und das zweite Mal, als mir eine junge Frau sagte, ich hätte „den geilsten Garten weit und breit“.

Alles in allem habe ich also unglaublich gute Tauschgeschäfte gemacht.

Bewusst einkaufen

Grün ist in – das hat inzwischen wohl jedes Kind begriffen. Na ja, eigentlich haben es vor allem die Kinder begriffen und die Erwachsenen zeigen sich mehr oder weniger einsichtig. Während die einen so tun, als könnten wir ewig so weitermachen wie bis jetzt, lassen sich andere durch die Jugendlichen zum Nachdenken anregen. Und dann gibt es natürlich noch diejenigen, die sich fragen, wie man den Trend zu Geld machen kann.

Das sind dann die Leute, die eine Werbeanzeige im Bus schalten, mit der sie umweltbewusste Passagiere dazu bringen wollen, sich ins Auto zu setzen und 50 Kilometer weit nach Süddeutschland zu fahren, um sich dort mit frischen Bio-Lebensmitteln einzudecken. Weil Menschen, denen die Natur am Herzen liegt, ja nichts lieber tun, als möglichst weite Wege zurückzulegen, um bewusst einzukaufen.

Wiederhören mit alten Freunden

Es ist viele Jahre her, seitdem wir miteinander Bekanntschaft geschlossen haben, die Hamchitis und ich. Mit dem Wechsel der Telefonnummer im Februar 2012 traten sie in mein Leben und wurden bald einmal zum unverzichtbaren Teil meines Alltags. So nahe standen wir uns, dass ich bald einmal in die dunkelsten Geheimnisse der Familie eingeweiht war. Keine seit Ewigkeiten unbezahlte Rechnung, kein Familienstreit mit der Oma aus dem Kosovo, kein verpasster Arzttermin, der mir verborgen geblieben wäre. So nervtötend es zuweilen auch war – als unversiegbare Quelle alltäglicher Erheiterung wuchsen mir die Hamchitis halt trotzdem ans Herz.

Und dann plötzlich Funkstille. Keine Anrufe mehr von Abdullah, der unbedingt Halim sprechen wollte. Keine endlosen Diskussionen mehr mit Sachbearbeiterinnen, die partout nicht glauben wollten, dass ich keine Ratenzahlungen für eine topmoderne Dampfbügelstation schuldig geblieben war. Keine Kantonspolizisten mehr, die wissen wollten, warum Halim den vereinbarten Termin nicht eingehalten hatte.

Wenn man so lange mit jemandem unterwegs war, macht man sich natürlich schon Sorgen, wenn man plötzlich nichts mehr voneinander hört. Was war bloss passiert? Hatten sie mich vergessen? Aus ihrem Leben verbannt, weil „Meiner“ einmal zu oft den Dummen gespielt und eine Pizza Margherita bestellt hatte, anstatt dem Anrufer zu sagen, wo Halim gerade steckte? War ihnen am Ende gar etwas zugestossen?

Heute Morgen nun endlich wiedermal ein Lebenszeichen. Ich bin ja so erleichtert! Halim lebt und es geht ihm offenbar so gut, dass er weiterhin fröhlich mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Dies zumindest vermute ich. Warum sonst sollte ihn die Kantonspolizei an einem ganz gewöhnlichen Montagmorgen anrufen wollen?