Das muss jetzt einfach mal raus

Der einen oder dem anderen werde ich mit diesen Zeilen auf die Nerven fallen – sofern sie überhaupt jemand liest. Eigentlich widerstrebt es mir auch, nach langen Jahren des Schweigens so viel Persönliches preiszugeben. Und mir ist auch voll und ganz bewusst, dass gesunde Menschen nicht gerne über Krankheit nachdenken, erst recht nicht über Covid. Dennoch muss ich hier einfach mal etwas loswerden:

Jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen, wo in den Medien wieder Interviews über neue Varianten gebracht werden und wo von vielen Experten beschwichtigend verbreitet wird, es bestünde überhaupt keine Gefahr, müsst ihr euch einer Sache bewusst sein: An Long Covid denkt dabei keiner, denn Long Covid ist auch für die meisten Experten unsichtbar.

Sie sehen nicht, wie wir, die wir niemals hospitalisiert waren, nach einer „milden“ Infektion nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Wie wir Nacht für Nacht ums Einschlafen ringen. Wie wir, wenn uns dann doch irgendwann der Schlaf gegönnt ist, morgens kaum mehr wachzukriegen sind. Wie wir selbst nach einer guten Nacht mit ausreichend Schlaf jeden Morgen wie erschlagen sind.

Sie beschreiben unseren Zustand als Fatigue und fügen nicht erklärend hinzu, dass dieses Gefühl von Erschlagenheit so viel mehr ist als blosse Müdigkeit. Dass jede noch so simple Tätigkeit davon durchzogen ist. Dass auch die erholsamste Erholungspause keine Erholung davon verschafft. Dass wir an den meisten Tagen selbst die schönen Dinge wie einen Kaffeeklatsch, einen Filmabend oder einen kurzen Spaziergang nicht schaffen, weil sie zu viel Kraft kosten.

Sie sagen, wir litten unter „Brain Fog“ und machen sich keine Vorstellung davon, wie entwürdigend es sich anfühlt, mitten im Satz banalste Worte nicht über die Lippen zu bringen. Wie schmerzhaft es ist, wenn sich auf dem Nachttisch all die guten Bücher stapeln, von denen man nicht mehr als ein, zwei Seiten am Stück lesen kann. Wie eingesperrt man sich fühlt, wenn man für jede kleinste Besorgung auf Chauffeurdienste angewiesen ist, weil die mangelnde Konzentration weder Velo- noch Autofahren zulässt. Kleine Besorgungen übrigens, die nur dann möglich sind, wenn vorher und nachher genügend Erholungszeit drinliegt, weil der Kopf mit den vielen Sinneseindrücken auf dem Weg und im Laden nicht klarkommt.

Diese Experten widersprechen nicht, wenn der Interviewer zu ihnen sagt, die schlimmen Long Covid-Fälle hätten sich doch ereignet, als noch keine Impfung zur Verfügung gestanden hätte. Sie könnten einwenden, viele von uns seien voll geimpft nach „mildem“ Omicron erkrankt, aber das wissen sie vermutlich gar nicht, denn die eine oder andere Studie kommt ja zum Schluss, die Impfung senke das Long-Covid-Risiko ein wenig. Und darum tun sie weiterhin so, als bestünde nur für ein paar wenige Vorerkrankte eine Gefahr.

Sie sagen, irgendwann würden wir uns wieder erholen. Ganz falsch ist das nicht; manchen von uns geht es ja tatsächlich irgendwann etwas besser. Viele aber kämpfen auch noch ein, zwei, drei Jahre nach der Infektion mit den gleichen Symptomen. Und weil wir halt leider keine schönen Geschichten von einer ganz plötzlichen Genesung über Nacht zu erzählen haben, gehen wir irgendwann vergessen.

Sie sagen, im Gegensatz zum Pandemiebeginn gebe es heute doch so viele Anlaufstellen, wo wir Hilfe bekämen. Dass wir dort nicht viel mehr zu hören bekommen als „Irgendwann wird‘s dann schon wieder“, lässt sie offenbar kalt. Dass man uns mit einer Verordnung für Physio- und Ergotherapie, aber ohne Medikamente, ohne Therapieempfehlungen und ohne Hoffnung wieder nach Hause schickt, scheint sie nicht zu interessieren. Vielleicht trösten sie sich aber auch mit dem Wissen, dass ja zumindest einige wenige von uns das Glück haben, bei einer engagierten Ärztin untergekommen zu sein, die bereit ist, alles zu probieren, was der bisherige Wissensstand zu probieren erlaubt.

Wobei sie unsere Bereitschaft, alles auszuprobieren, was nur irgendwie Linderung verspricht, ziemlich verurteilenswert finden. Wer bereit ist, Unsummen zusammenzukratzen für eine Therapie, deren Wirksamkeit bloss anekdotisch ist, kann doch nicht recht bei Trost sein. „Wie können die nur?“, fragen sie entrüstet. „Die Wissenschaft ist doch dran, Lösungen zu finden. Warum sind die bloss so ungeduldig?“

Ja, warum nur? Was stört uns denn so sehr daran, nach jedem Termin ausser Hause zwei, drei, vier Tage Erholung in reizarmer Umgebung zu brauchen, damit wir wieder so halbwegs funktionieren? Auf dem Sofa ist es doch so bequem!

Was ist denn so schlimm daran, nicht mehr in die Ferien fahren zu können? Zu Hause ist es doch auch schön!

Warum beklagen wir wenigen Glücklichen, die wir dank Home Office noch arbeiten können, uns auch, der Job fresse die ganze spärliche Energie auf? Arbeiten ist doch eine erfüllende Sache!

Was vergiessen wir auch bittere Tränen, wenn wir auf Social Media sehen, wie unsere Freundinnen, Verwandten und Arbeitskolleginnen das Leben geniessen? Dort, wo sie sich aufhalten, müssten wir ja doch nur aufpassen, uns das Virus nicht wieder einzufangen!

Was jammern wir auch über die Krankenkasse, die uns fast nichts von alldem bezahlt, was wir einwerfen, um uns irgendwie Linderung zu verschaffen? Wir könnten ja auch einfach dankbar dafür sein, wie breit das Sortiment an Mittelchen, die wir ausprobieren können, inzwischen ist.

Und überhaupt, unser ewiges Gejammer ums Geld, was soll das überhaupt? Seien wir doch froh um die teuren Stützstrümpfe, die für einen besseren Blutfluss sorgen; um die Putzfrau, die bereitwillig jede Woche den Dreck wegputzt, den wir nicht mehr wegputzen können; um die Taxis, die einen an jeden beliebigen Ort karren, wenn laufen nicht mehr geht. Solche Mehrausgaben trägt doch jedes Familienbudget mit Freuden, wenn‘s der Gesundheit dient!

Warum um alles in der Welt weigern wir uns so standhaft, uns von den Gesunden Ratschläge erteilen zu lassen? Die Homöopathin, die dem Nachbarn der Cousine des ehemaligen Arbeitskollegen bei seinem Beinbruch so gut geholfen hat, kann doch bestimmt auch etwas gegen Long Covid ausrichten! Das wird ja wohl kaum so schwer sein …

Was beklagen wir uns auch, die Krankheit vermiese uns die besten Jahre unseres Lebens? Immerhin leben wir noch!

Man mag sich fragen, warum ich das alles schreibe. Will ich etwa um Mitleid heischen? Nein, will ich nicht, auch wenn ich offen gestanden in den letzten 518 Tagen mehr als einmal ins Selbstmitleid abgerutscht bin. Mir ist trotz allem bewusst, wie privilegiert ich neben den vielen Unglücklichen auf dieser Welt noch immer bin.

Der Grund, warum ich einen Crash riskiere, um über sehr persönliche Dinge zu schreiben, die ich eigentlich lieber für mich behalten würde, ist ein anderer: Ich möchte euch vor Augen führen, warum ihr das, was mein Leben aus der Bahn geworfen hat, um keinen Preis haben wollt.

Fatigue, Brain Fog, Belastungsintoleranz – das alles mag harmlos klingen, ist aber die Hölle.

Selbst dann, wenn man, wie ich, jeden Tag noch ein paar halbwegs gute Stunden hat.

Darum meine verzweifelte Bitte, jetzt,wo die Zahlen wieder steigen: Passt auf euch auf. Und falls es euch doch erwischt, gebt es so wenig weiter wie möglich. Bitte glaubt mir, ihr wollt WIRKLICH kein Long Covid haben.

4 Gedanken zu “Das muss jetzt einfach mal raus

  1. etwas spät aber ich hoffe der Winter war nicht zu schlimm und ihre Familie bringt sie trotz allem ab und zu zum lächeln 🤞🤞

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..