Schweiz, 2020

Ich sitze im Büro bei der Arbeit, mein Handy klingelt.

„Grüezi Frau Venditti, ich bin die Therapeutin Ihres Sohnes. Hätten Sie kurz Zeit für ein Gespräch?“

„Das ist leider grad ziemlich ungünstig. Ich bin bei der Arbeit und stecke mitten in einer Sache, die vor Feierabend noch fertig werden muss. Ginge es vielleicht in zwei Stunden?“

„Ach so, Sie arbeiten? Ist ja interessant. Was denn, wenn ich fragen darf?… Als Redakteurin? Spannend!… Im Homeoffice?…Immer, nicht nur wegen Corona?…. Wirklich ausgesprochen spannend, dann haben Sie uns allen ganz viel voraus in diesen Zeiten. Aber jetzt müssen Sie ja arbeiten, ich will Sie nicht länger aufhalten.“

Zwei Stunden später:

„Also, Frau Venditti, es ist so, dass wir die Gelegenheit hätten für einen kurzen Austausch mit einer Fachperson. Ihr Sohn könnte ja in gewissen Bereichen durchaus noch Unterstützung brauchen und da wäre ein solches Gespräch bestimmt hilfreich.“

Ich stimme ihr zu, dass eine derartige Standortbestimmung nicht schaden würde und wir unterhalten uns darüber, was denn bei diesem Gespräch alles besprochen werden müsste, wer dabei sein sollte, wann es stattfinden wird (der Termin ist bereits fix, in zwei Wochen, morgens um 9, Verschieben nicht möglich, aber Frau Venditti arbeitet ja im Homeoffice und kann sich bei Bedarf beliebig verrenken, damit alles passt) und welche Formalitäten im Voraus noch zu erledigen sind.

Da alles ziemlich kurzfristig sei, müsse sie schauen, ob sie das alles noch rechtzeitig aufgleisen könne, meint die Frau, aber sie werde das schon irgendwie hinkriegen, wenn sie sich jetzt gleich an die Arbeit mache. Als alles fertig besprochen ist, sagt sie:

„Gut, dann rufe ich Sie morgen noch einmal an. So haben Sie heute Abend noch etwas Bedenkzeit und können sich überlegen, ob Sie das Gespräch möchten oder nicht.“

„Bedenkzeit? Die brauche ich eigentlich nicht, für mich ist es okay so, wie wir das besprochen haben.“

„Ach, Sie können das so spontan entscheiden? Aber müssen Sie denn nicht erst noch Ihren Mann fragen, ob er auch einverstanden ist?“

Ja, und jetzt weiss ich halt auch nicht, ob ich nicht vielleicht etwas zu weit gegangen bin. Immerhin habe ich grad ohne mit der Wimper zu zucken zugesagt, mich 45 Minuten lang mit Fachleuten über die Zukunft unseres Sohnes zu unterhalten – und das, ohne meinen Mann um Erlaubnis zu bitten.

Soweit ist es nun also schon gekommen mit mir.

Insider bestätigt: Es sind alles nur Phasen

Landauf, landab trösten Eltern, deren Kinder mal wieder spinnen, einander mit diesem einen Satz: „Es ist bestimmt nur eine Phase.“ Egal, wie lange der Ausnahmezustand auch dauern mag, wir alle halten uns mit dem Gedanken über Wasser, dass sich eines schönen Tages alles wieder wie von Zauberhand einrenken wird und wir endlich aufatmen können. Zumindest, bis die nächste Phase kommt…

Aber stimmt das auch wirklich? Immerhin mahnen zahlreiche Pädagogen, Psychologen und Psychiater, man solle die kindliche Entwicklung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Was in jungen Jahren schief laufe, lasse sich später überhaupt nicht oder nur noch mit grösster Mühe korrigieren. Darf man da einfach alles, was uns Eltern nicht vollends in die Knie zwingt, als Phase abtun?

Man darf.

Dies zumindest schliesse ich aus dem, was mir neulich das Prinzchen – also ein Insider in Sachen Kindsein – ganz offen gestand: „Ich war ja sowas von blöd“, sagte er neulich, als ich wissen wollte, weshalb er plötzlich all seine Möbel, Schuhe und Kleider, die er in den vergangenen Monaten mit wasserfesten Stiften fantasiereich verziert hatte, sauber zu schrubben versuchte. „Warum denn?“, wollte ich wissen. „Na ja, du weisst doch, ich hatte da diese dumme Phase, in der ich alles angemalt habe. Und jetzt kriege ich das Zeug nicht mehr sauber.“

Da haben wir es also: Es sind tatsächlich nur Phasen.

Und fast noch tröstlicher ist, dass die Knöpfe, wenn sie die Sache mal hinter sich gelassen haben, selber den Kopf schütteln ob ihrer Verrücktheiten.

Normal?

Auf diesem Planeten leben unglaublich viele kluge, beeindruckende und ganz und gar nette junge Menschen. Daneben gibt es in der Generation unserer Kinder – genau wie in jeder anderen Generation – ein paar Vertreter, die einen an der Menschheit zweifeln lassen. Leider hatte ich in letzter Zeit gleich mehrmals das Pech, mit solchen Jugendlichen im Bus zu sitzen.

Da war zum Beispiel die junge Frau, die sich in der Stosszeit demonstrativ so hinsetzte, dass der Fensterplatz zu ihrer Rechten frei blieb. Die alte Dame, die es wagte, sich an ihren Knien vorbei zu zwängen, um den einzigen freien Platz im Bus zu ergattern, bedachte sie mit giftigen Blicken. Den alten, zittrigen Mann, der sich ein paar Schritte von ihrem bequemen Sitzplatz entfernt mit beiden Händen an der Stange festklammerte, um bei der nächsten Kurve nicht hinzufallen, ignorierte sie geflissentlich. Auch dann noch, als eine Passagierin sie darum bat, den Sitzplatz doch bitte freizugeben. Ungerührt bliebt sie sitzen und scrollte durch ihre Nachrichten, während der alte Mann sich nach Kräften darum bemühte, auf beiden Füssen zu bleiben und sich dabei nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm das alles zusetzte.

Da war der Rotzbengel, der sich mit seinen Freunden laut vernehmlich über „diese elenden Schleiereulen“ lustig machte – wohl wissend, dass eine junge Frau mit Kopftuch keinen Meter von ihm entfernt stand und jedes einzelne seiner verächtlichen Worte verstehen konnte.

Da war die frischgebackene Berufsfrau, die mit unverkennbarem Stolz verkündete, sie sei doch nicht so doof wie alle anderen. Von den acht Arbeitsstunden, die sie täglich zu leisten habe, sei sie allerhöchstens drei oder vier Stunden produktiv. Mehr könne man von einem Menschen wirklich nicht erwarten.

Da waren die zwei Halbstarken, die laut herumpöbelten und für alles, was weiblich ist, nur ein einziges F-Wort kannten – und zwar nicht dasjenige, das mit F beginnt und mit -rauen endet.

Alle diese jungen Menschen hatten eins gemeinsam: Sie hatten es irgendwie fertig gebracht, durch die Volksschule zu kommen, eine Lehrstelle zu ergattern oder bereits einen Abschluss in der Tasche zu haben. Sie alle hatten in einem Bewerbungsverfahren Konkurrenten ausgestochen, weil jemand sie für kompetenter als andere gehalten hatte.

„Na und, das kann dir doch egal sein. Die führen sich im Berufsleben bestimmt ganz anders auf als nach Feierabend im Bus“, wird man mir jetzt sagen und mit grosser Wahrscheinlichkeit stimmt das auch.

Dennoch sind solche unfreiwilligen Begegnungen an manchen Tagen nicht nur schwer auszuhalten, sondern einfach nur schmerzhaft.

Zum Beispiel, wenn der Sohn einen Termin bei der Berufsberatung hat und dort gesagt bekommt, sein Zeugnis würde in einem Lehrbetrieb nicht mal angeschaut, damit habe er nicht die geringste Chance. Ein Zeugnis, wohlgemerkt, das detailliert aufzeigt, dass der Junge dank fleissigem Einsatz auf gutem Weg ist, von der Sonderschule aus den Anschluss an die Berufswelt zu schaffen. Dieser Junge, der schon zahlreiche Schwierigkeiten gemeistert und dabei gelernt hat, trotz so mancher Demütigung anständig zu bleiben, darf sich anhören, man sehe ihm seine Einschränkung halt schon ein wenig an, die Stellensuche werde sich da leider schwieriger gestalten als bei einem „normalen“ Jugendlichen.

Der Junge hat diese Aussagen zum Glück einigermassen gut weggesteckt. Und weil er von seinen Lehrerinnen und anderen Fachleuten gut begleitet wird, besteht die Hoffnung, dass er seine Nische finden wird.

Dennoch tun solche Sätze weh.

Erst recht, wenn der Eindruck davon, wie sich einige dieser „normalen“ Jugendlichen aufführen, noch so frisch ist.

Marktgetümmel

„Ich war noch nie auf einem Weihnachtsmarkt“, stellte Luise neulich mit Erstaunen fest. Und wie immer, wenn ein Teenager mit Erstaunen feststellt, dass er oder sie etwas noch nie getan hat, folgte sogleich die Frage: „Warum war ich eigentlich noch nie auf einem Weihnachtsmarkt?“

Eine kleine Frage nur, in der aber unterschwellig der Vorwurf mitschwingt, den wir Eltern so furchtbar gerne hören: „Während alle anderen sich in der Adventszeit bei frostigen Temperaturen an festlich geschmückten Marktständen, Lebkuchenherzen, heissem Punsch und Drehorgel-Gedudel erfreuen durften, mussten wir uns mit euch in der warmen Stube bei Mailänderli, Kerzenschein und Adventsgeschichten langweilen. Wie konntet ihr uns ein solches Vergnügen bloss vorenthalten? Liebt ihr uns denn überhaupt?“

Ich erklärte Luise, wir liebten unsere Kinder sehr wohl und zwar so sehr, dass es für uns nicht in Frage gekommen wäre, ihnen anzutun, was so viele Eltern sich und ihren armen Kleinen zumuten: Mit Kinderwagen und Kleinkind in der glühweinseligen Menge beinahe erdrückt werden, in der Warteschlange beim Karussell die Geduld und die Nerven verlieren und sich erst dann wieder erschöpft nach Hause schleppen, wenn das Portemonnaie leer ist und jede klebrige Kinderhand ein wertloses Plastikspielzeug oder die Schnur eines überteuerten Luftballons umklammert. Ich erklärte meiner Tochter, dass fürsorgliche Eltern ihren Knöpfen so etwas nach Möglichkeit ersparen.

Luise tat so, als könnte sie meine Erklärung nachvollziehen, fragte dann aber doch mit himmelblauem Augenaufschlag: „Mama, gehen wir mal zusammen auf den Weihnachtsmarkt?“ Weil ich inzwischen keine kleinen Kinder mehr habe, die als Ausrede herhalten können, sah ich keinen triftigen Grund, ihr den Wunsch abzuschlagen und so fuhren wir heute mit dem Zug nach Basel.

Ich könnte jetzt des Langen und Breiten von dem Nachmittag erzählen, den Luise, das Prinzchen und ich hinter uns haben. Ich könnte ein Klagelied anstimmen, in dem kläglich schreiende Babies, widerlicher Weihnachtskitsch, beissend kalter Wind und ein Ellbogen, der mir mit voller Absicht und viel Wut in die Seite gerammt wurde, vorkommen. 

Ich kann mich aber auch ganz kurz und knapp fassen: Nach insgesamt etwa dreissig Minuten in Marktgetümmel meinten Luise und das Prinzchen, sie hätten genug gesehen, wir könnten jetzt nach Hause fahren.

Womit bewiesen wäre, dass Weihnachtsmärkte auch ohne Kinderwagen und Kleinkind eine Zumutung sind.

Volljährig

Die Parties sind vorbei, die Blumen in den Vasen lassen allmählich ihre Köpfe hängen, Keller und Küche sind wieder aufgeräumt und das schöne Geschirr ist zurück im Schrank. Im Kühlschrank stehen die Reste der Fleischpastete, für die ich gestern mit Todesverachtung Schweine- und Kalbfleisch durch den Fleischwolf gedreht habe und der Herd bleibt für die nächsten drei Tage kalt, weil ich nach zweieinhalb Tagen Dauereinsatz schlicht keine Lust mehr habe, in Kochtöpfen zu rühren – was absolut kein Problem ist, denn „Meiner“ und ich haben uns mal wieder mit den Mengen vertan. Nachdem alle Gäste gegangen sind, ist im Haus wieder die übliche (Un)ruhe eingekehrt und so habe ich endlich Zeit, mich um die Glucke zu kümmern, die seit gestern früh schluchzend und schniefend im hintersten Winkel des Wohnzimmers kauert.

„Was hast du denn?“, frage ich sie so mitfühlend wie möglich. Offen gestanden habe ich nach dem Trubel der vergangenen Tage nicht gerade viel Geduld für ihre Gefühlsduseleien. 

„Es ist wegen Karlsson…“, presst sie mühsam hervor.

„Was ist denn mit Karlsson?“, frage ich, obschon ich natürlich ganz genau weiss, was sie meint. Weil sie weiss, dass ich weiss, versucht sie gar nicht erst, meine Frage zu beantworten. Sie schluchzt einfach weiter und so ist es an mir, in Worte zu fassen, was sie quält: „Karlssons achtzehnter Geburtstag war wohl ein bisschen viel für dich. Du fühlst dich grad, als würde er morgen ausziehen und nie mehr wieder kommen.“ Mit grossen, traurigen Augen sieht sie mich an und nickt, bleibt aber weiter stumm. „Bei der Erinnerung daran, wie er gestern seinen ersten Abstimmungszettel ausgefüllt und voller Stolz in den Briefkasten der Gemeindekanzlei eingeworfen hat, bricht dir fast das Herz.“ Sie nickt wieder, wischt sich mit dem Ärmel die triefende Nase sauber, sagt aber noch immer nichts. „Du denkst voller Wehmut an die vergangenen Tage mit kleinen Jungen mit den braunen Kulleraugen und dem Eisbären-Teddy und wünschst dir, die Zeit wäre nicht so furchtbar schnell verflogen.“ Sie wimmert leise: „Mein kleiner, lieber Kaslsson…“ Und dann heult sie wieder Rotz und Wasser.

Ich glaube, die Glucke ist heute nicht empfänglich für das, was ich ihr zu sagen habe: Dass ihr kleiner, lieber Karlsson jetzt halt ein grosser, lieber Karlsson ist. Dass er zwar volljährig, aber deswegen noch längst nicht flügge ist. Dass ihr ehemals kleiner Junge sich doch ganz gut macht. Und dass es durchaus seine Vorzüge hat, mit halbwegs erwachsenen Kindern durchs Leben zu gehen. 

Ich glaube, die Glucke braucht noch ein wenig Zeit, sich damit abzufinden, dass ihr Erstgeborener allmählich erwachsen wird. Darum lasse ich sie schniefend und schluchzend in ihrer Ecke sitzen, um mit Karlsson auf seine Volljährigkeit anzustossen. 

Frohe Weihnachten allerseits!

Als unsere Kinder noch kleiner waren, wunderte ich mich stets darüber, dass spätestens ab Mitte August Andrew Bonds „Zimetschtern hani gern“ aus dem Kinderzimmer schallte. Wie, um Himmels willen, kamen die bei 30 Grad Hitze auf die Idee, die CD mit den Weihnachtsliedern aus dem Schrank zu holen? Und das noch bevor das viel zu frühe vorweihnachtliche Theater in den Läden losging?

Nun, ich weiss bis heute nicht, was unsere Knöpfe dazu getrieben hat, mitten im Hochsommer Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Aber ich ahne zumindest, wer die Geschwister dazu angestiftet hat: Es muss Karlsson gewesen sein. Den packt nämlich heute noch bei sommerlichen Temperaturen die Sehnsucht nach dem Fest der Liebe. Gut, er kramt nicht mehr Andrew Bond aus dem Schrank. Aber er setzt sich ans Klavier und klimpert sein weihnachtliches Repertoire: O du fröhliche, I Heard The Bells On Christmas Day, Stille Nacht, We Wish You A Merry Christmas, Leise rieselt der Schnee – und das alles natürlich bei offenem Fenster, auf dass auch die Nachbarschaft bald in Feststimmung komme.

Warum er das tut? Angeblich, weil er die Meinung vertritt, man könne Weihnachtslieder spielen, wann immer man die Lust dazu verspüre – ob es nun August, September oder Dezember sei. Ich vermute aber, dass dahinter noch ein anderer Grund steckt: Unser Ältester geht mit dem Klimawandel und übt schon mal, wie es sich anfühlt, schweissüberströmt bitterkalte Winternächte zu besingen.

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WM-Kummer


Himmel, hätten die Brasilianer heute nicht etwas besser spielen können? Ein bisschen mehr Anstrengung wäre doch bestimmt möglich gewesen. Immerhin sind das Profis…

Eigentlich geht es mir ja am Allerwertesten vorbei, wenn die und all die anderen für viel zu viel Geld einem Ball hinterher rennen und so tun, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Aber ich bin nun mal Prinzchens Mutter und muss mit wehem Herzen mitansehen, wie der Arme ab Spielminute 31 Rotz und Wasser heulend vor dem Fernseher sitzt, sich nach der Niederlage schluchzend auf den Boden wirft und sich danach in den Schlaf weint.

Wie um alles in der Welt soll ich das Kind trösten können, wenn ich seinen Kummer so ganz und gar nicht nachvollziehen kann? Wie soll „Meiner“ ihm helfen, wo er doch ebenfalls nicht verstehen kann, was an dem Theater auf dem Rasen so spannend sein soll? Uns fällt da nicht mehr ein, als hilflos daneben zu stehen, ein paar tröstende Floskeln zu murmeln und uns zu fragen, wie wir zwei Fussballmuffel ein solches Kind zustande gebracht haben. Und weil er sich nicht mal in den Arm nehmen lässt, um sich bei seinen verständnislosen Eltern auszuheulen, bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn traurig ins Bett gehen zu lassen und uns grün und blau zu ärgern über ein Spielresultat, das uns eigentlich so herzlich egal wäre.

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Hamster-Drama

Seien wir ehrlich: Goldhamster sind fies. Mit ihren Kulleraugen, den dicken Backen und den herzigen Pfötchen sehen sie aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Bereitwillig lassen sie sich von Kinderhand füttern, voller Zutrauen schmiegen sie sich schon nach wenigen Tagen an ihren kleinen Menschen. Doch dieses Getue ist nur Ablenkung, denn während das arme Kind allmählich sein Herz verliert, baut das Vieh klammheimlich an seinem Fluchtweg aus dem Käfig. 

Natürlich hat es sich schon längst herumgesprochen, dass den Tierchen nicht zu trauen ist und so fallen längst nicht mehr alle Kinder auf diese zuckersüsse Masche herein. Zwar rufen alle erst einmal „Jööööö, wie herzig!“, wenn sie in die kugelrunden Äugeln blicken, doch die meisten lassen sich schnell einmal davon überzeugen, dass die fiesen Nager nicht als Haustier taugen. Einige aber erliegen dem Charme trotzdem und bald einmal verfallen sie dem Glauben, ohne Hamster könnten sie nie wieder glücklich sein. Mit Bitten und Flehen liegen sie ihren Eltern in den Ohren, bis die sich endlich erweichen lassen. Der Hamster zieht ins Kinderzimmer ein und die Tragödie nimmt ihren Lauf…

Früher oder später nämlich wird das Kind schniefend und schluchzend im Wohnzimmer stehen und verkünden, der Hamster habe das Weite gesucht. Und weil es oft die Zartbesaiteten sind, die dem Charme der Nager erliegen, wird das Schniefen und Schluchzen tagelang kein Ende mehr nehmen.

Da hilft kein „Mach dir keine Sorgen, dein Hamster will sich bloss ein wenig vergnügen. Der kommt bestimmt wieder zurück“, denn dass das Tier ohne seinen kleinen Menschen glücklich sein kann, mag sich das Kind beim besten Willen nicht vorstellen. 

Auch die Versicherung „Wenn das Tierchen nicht wieder auftaucht, bekommst du ein neues“, bringt keinen Trost, denn die Vorstellung, das gebrochene Herz an einen anderen Hamster verschenken zu müssen, ist allzu schmerzhaft. 

Und wenn das Kind ein gewisses Alter erreicht hat, hilft es auch nichts mehr, klammheimlich eine Kopie des Urhamsters anzuschaffen und zu verkünden: „Sieh mal, Murmel ist zurück. Unglaublich, wie die abgenommen hat auf ihrem Streifzug durch die Wohnung!“ Auf sowas fällt auch der leichtgläubigste Elfjährige nicht mehr rein. 

Tja, wer so blöd ist, seinem Kind den Wunsch nach dem Hamster zu erfüllen, handelt sich damit eben nicht nur einen gelegentlich schmutzigen Käfig ein, sondern auch eine gehörige Portion kindlichen Herzschmerz.

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Eine Vorwarnung wäre nett gewesen

Damit das klar ist: Ich bin den Ärztinnen und Ärzten, die sich in den vergangenen 10 Tagen um den Zoowärter gekümmert haben, unendlich dankbar. Selbstverständlich verstehe ich, dass wir oft auf sie warten mussten, weil sie noch so viel anderes zu tun hatten. Dass mein eigener Job dabei zurückstehen musste, steht für mich ausser Frage.

Dennoch dünkt mich, den Halbgöttern in Weiss sei kaum bewusst, dass auch wir, die wir beruflich kein Leben retten, hin und wieder noch anderes zu tun haben, als am Krankenbett unseres Kindes zu sitzen.

Fragst du nach einer Woche, wie lange der Spitalaufenthalt schätzungsweise dauern könnte, du hättest da noch ein paar andere Kinder, die dich brauchen, schaut man dich verwundert an. Noch ein wenig verwunderter ist der Blick, als du erklärst, du hättest am Donnerstag eine Sitzung und wärest deshalb froh, wenn du den Tag ein wenig planen könntest. Als dann endlich der Tag des Austritts gekommen ist, platzt die Ärztin mit einer Nachricht ins Zimmer, die jede berufstätige Mutter – auch eine, die im Home Office arbeitet – ins Schwitzen bringt: Eine volle Woche noch müsse das Kind zu Hause bleiben, das werde in solchen Fällen immer so gehandhabt, das sei doch sonnenklar. Nun, die Ärztin mag wohl eine Expertin bezüglich des Heilungsverfahrens in „solchen Fällen“ sein. Vom Familienalltag hingegen scheint sie keine Ahnung zu haben. Zumindest versetzt sie deine Erklärung, so etwas müsste man Eltern im Voraus mitteilen, weil das stets gewisse organisatorische Herausforderungen mit sich bringe, in grosses Erstaunen.

Ich hoffe sehr, die Gute schreibt sich das hinter die Ohren und informiert die nächsten Eltern etwas früher darüber, dass das Familienleben auch nach Spitalaustritt noch eine Weile lang auf dem Kopf stehen wird.

Befindlichkeiten

Tag 1: Leerer Magen? Bleierne Müdigkeit? Volle Blase? – Alles egal. Hauptsache, die finden endlich heraus, was mit dem Kind los ist.

Tag 2: Leerer Magen? Bleierne Müdigkeit? Volle Blase? – Alles egal. Hauptsache, wir bekommen bald den richtigen Arzt zu Gesicht, damit es dem Kind bald wieder besser geht.

Tag 3: Leerer Magen? – Wer mag denn schon essen, wenn das Kind gleich operiert wird? Bleierne Müdigkeit? – Bei so viel Nervosität spürt man die doch gar nicht mehr. Volle Blase? – Na ja, immerhin die stellt kein Problem mehr dar, weil man sich während der Wartezeit ja irgendwie die Zeit vertreiben muss. Zudem hat man immerhin mal Zeit gehabt, eine Dusche zu nehmen und sich umzuziehen. Also Luxus pur.

Tag 4: Magen voll, Blase leer und Müdigkeit spielt keine Rolle mehr, denn man sitzt ja ohnehin den ganzen Tag nur da und hofft, dem Kind gehe es endlich ein wenig besser.

Tag 5: Mit leiser Stimme melden sich ein paar Bedürfnisse, die während der Aufregung der vergangenen Tage vergessen gegangen sind. Schnell bringt man sie zum Schweigen, denn die Gesundheit des Kindes hat jetzt Vorrang. Und was sich nicht zum Schweigen bringen lässt, wird durch die Anforderungen des Spitalalltags schnell auf seinen Platz verwiesen. Mama hat da zu sein, wenn sie gebraucht wird, da liegt nichts anderes mehr drin.

Tag 6: Die Müdigkeit haut auf den Tisch. Sie hat jetzt wirklich genug davon, andauernd ignoriert zu werden. Weil es dem Kind inzwischen deutlich besser geht, wagt man es, eine Nacht zu Hause im eigenen Bett zu verbringen. Das schlechte Gewissen begehrt auf. Das arme, kranke Kind! So alleine und verlassen in seinem grossen Spitalbett! Ganz abgebrühte Mütter lassen sich dadurch natürlich nicht beeindrucken. Die brauchen schon die eine oder andere spitze Bemerkung von Pflegepersonal und Zimmernachbarin, um sich tüchtig dafür zu schämen, dass sie ihr Kind so schändlich vernachlässigen.

Tag 7: Das Kind lässt die Mama wissen, das mit der Nacht zu Hause sei ganz und gar nicht in seinem Sinne gewesen. Nein, es habe sich nicht gefürchtet und es sei auch nicht wirklich schlimm gewesen ohne die Mama. Aber trotzdem… Mehr braucht Mama nicht, um wissen, wohin ihre bleierne Müdigkeit gehört: Fest eingeschlossen in einen Schrank, aus dem sie erst wieder rausgelassen wird, wenn das Kind aus dem Spital entlassen wird. Da sich das Kind inzwischen mit dem Zimmernachbarn angefreundet hat, hätte die Müdigkeit zwar theoretisch viel Zeit, sich um sich selbst zu drehen. Doch in einem engen, von zwei lebhaften Jungs und zwei trägen Müttern bewohnten Spitalzimmer gibt es dafür tagsüber kaum Platz. Es sei denn, die Müdigkeit gebe sich mit einem ganz gewöhnlichen Stuhl zufrieden.

Tag 8 & folgende: Wir werden sehen… Ein inzwischen putzmunteres Kind und eine übermüdete Mutter, die beide noch nicht nach Hause dürfen, weil die Ärzte zuerst ganz sicher sein wollen, dass die Entzündungswerte sich in die richtige Richtung bewegen, werden irgendwie ein paar sehr lange Stunden hinter sich bringen müssen. Vermutlich wird es sich anfühlen wie ein endloser Aufenthalt im Wartezimmer, denn eigentlich geht es nur noch darum, aus ärztlichem Mund ein „Sie dürfen nach Hause gehen“ zu vernehmen.