Der Herrgott und das Feuerwerk

Da gibt also heute in meiner Tageszeitung ein Leser oder eine Leserin den folgenden Gedanken weiter: Wir Schweizer sollten doch einfach mal dankbarer sein. Gerade noch rechtzeitig sei der Regen gekommen, so dass wir morgen unseren schönen Nationalfeiertag wie gewohnt feiern dürften. Der oder die Schreibende geht nicht näher darauf ein, wem wir dankbar sein sollen, aber ich nehme mal an, es war der Herrgott gemeint.

Eine unbedachte Äusserung von einem Menschen, der nicht besonders weit denkt, ich weiss. Und doch eine hierzulande weit verbreitete Sicht der Dinge: Umweltkatastrophen? Flüchtlingstragödien? Europäische Identitätskrise? Religiös verbrämter Terror? Aufkeimender Fremdenhass, hier und anderswo? Seuchen? Diktaturen? Krieg? – Was geht uns das alles an? Ist ja nicht unsere Welt, die da draussen. Und überhaupt: Wenn der Herrgott noch Zeit hat, seinen lieben Schweizern rechtzeitig Regen fürs Feuerwerk zu schicken, kann es so schlimm ja nicht sein.

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Zwei Paar Schuhe

Im Zusammenhang mit den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Tage wurde eine Sache so heftig wie schon lange nicht mehr kritisiert: Die Religion. Zu recht, wie ich finde, bekommen wir doch fast tagtäglich vor Augen geführt, wozu Menschen fähig sind, die im starren Korsett der Rechtgläubigkeit gefangen sind. Störend finde ich, dass viele, die sich zum Thema äussern, keinen expliziten Unterschied machen zwischen Religion und Glauben. „Ist doch alles das Gleiche“, mag jetzt vielleicht der eine oder andere einwenden, aber das ist es eben nicht. 

Wer glaubt, setzt sich mit den Inhalten seines Glaubens auseinander, um Wege zu finden, das zu leben, was er für richtig hält. (Also mit so herausfordernden Dingen wie „Liebt eure Feinde und tut Gutes denen die euch hassen“ und was die verschiedenen Glaubensrichtungen sonst noch so zu bieten haben.) Scheitern und Zweifel gehören ebenso dazu wie die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Glaube zuweilen an dem, was das Leben bietet, zu zerschellen droht. Um die demütige Erkenntnis, nie vollends erfassen zu können, worum es geht, kommt wohl kein Glaubender herum und so muss es auch sein, denn so bleibt er davor bewahrt, in eine starre Religiosität zu verfallen, die anderen vorschreibt, wie sie zu leben haben. 

Glauben – das fällt mir in diesen Tagen, wo wir alle uns um unsere Freiheit sorgen, besonders auf – tun wir alle irgendwie. Vielleicht ist es kein religiös geprägter Glaube, sondern der Glaube an das, was die Aufklärung bewirkt hat, oder der Glaube an die Menschenrechte, oder der Glaube an die Freiheit – eine tiefe Überzeugung eben, die wir als richtungsweisend für unser Leben ansehen und die uns dazu antreibt, an dem festzuhalten, was man uns zu rauben droht. 

Darum wünschte ich mir, Kommentatoren, die in diesen Tagen die Religionen kritisieren, würden Religiöse und Glaubende nicht einfach in den gleichen Topf werfen. 

Buon anno buono?

Schutzengel

„Sicherheit am, im und auf dem Wasser“, so lautet der Arbeitstitel einer kleinen Artikelserie für swissmom, an welcher ich derzeit gerade arbeite und weil ich nicht irgend etwas schreiben will, verbrachte ich den Grossteil des heutigen Nachmittags mit Recherchen zum Thema. Ich las quer durch eine Studie, schaute mir die Videos von Präventionskampagnen an, sammelte Fakten und studierte Grafiken. Weil ich den Lesern aber nicht bloss frei interpretierbare Satzbausteine liefern will, versetzte ich mich auch zurück in die Zeit, als unsere heute schon ziemlich Grossen noch ganz klein waren und ich mindestens fünf Paar Augen, zehn Hände, acht Füsse und vor allem Superkräfte gebraucht hätte, um alle so zu überwachen, wie es die Sicherheitsexperten zu Recht fordern. Ich versuchte, mir die grössten Herausforderungen von damals in Erinnerung zu rufen, damit ich nicht einfach schreibe, was man überall lesen kann, sondern auch auf die Hürden hinweise, die es einem im Mütter- und Väteralltag erschweren, so zu handeln, wie es eigentlich richtig wäre. Und plötzlich waren sie wieder da, die Erinnerungen an jene Situationen, in denen dir der Atem stockt und du nur noch handeln, nicht mehr denken kannst. 

Der Augenblick zum Beispiel, als der Zoowärter plötzlich mit dem Gesicht nach unten im Pool von Freunden trieb. Wir waren vier Erwachsene, die mit Blick auf die Kinder am Rand des Pools sassen, jeder von uns allzeit bereit, hochzuspringen. Und doch hatte es der damals noch ziemlich Kleine fertig gebracht, von uns allen unbemerkt in den Pool zu fallen. 

Oder der heisse Nachmittag in der Toscana, an dem sich die noch sehr kleine Luise entgegen aller elterlichen Ermahnungen trotzig der Schwimmflügel entledigte und auf der Treppe des Schwimmbeckens diesen einen Schritt zu viel machte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis „Meiner“ bei ihr war, obschon nur ein paar Schritte zwischen ihm und ihr lagen. 

Nicht nur ans Wasser erinnerte ich mich, auch der Abend, an dem wir aus unerfindlichen Gründen vergessen hatten, das Fenster im Wohnzimmer zu schliessen, ehe wir uns zum Abendessen an den Tisch setzten. Noch nie zuvor hatten wir es vergessen und ausgerechnet an diesem Abend kletterte Luise, damals knapp 18 Monate alt, aus dem Hochstuhl und ging aus dem Zimmer. Plötzlich wurde „Meiner“ unruhig, begab sich ins Nebenzimmer, gerade noch rechtzeitig, um Luise daran zu hindern, auch noch mit dem zweiten Bein über das Fensterbrett zu steigen. 

Vom Nachdenken über dieses Erlebnis war es nicht mehr weit bis zur Erinnerung, die mich heute noch erblassen lässt. Wir verbrachten eine Woche mit einer Schulklasse von „Meinem“ in einem Gruppenferienhaus. Gegenüber gab es irgend einen Betrieb, zu dem mehrmals am Tag Lastwagen gefahren kamen. Ich war mit Luise und dem FeuerwehrRitterRömerPiraten, der damals noch auf allen Vieren unterwegs war, in der Küche und wähnte uns alle in Sicherheit, denn ich glaubte, ich hätte wie immer die schwere Eingangstüre abgeschlossen, damit die zwei Racker nicht entwischen konnten. Irgendwann verliessen die beiden die Küche, um im Aufenthaltsraum zu spielen. Dann wurde es auf einmal verdächtig still, ein klares Zeichen, dass etwas nicht mehr stimmte. Im Haus waren sie nicht mehr zu finden, dafür stand die vermeintlich geschlossene Eingangstüre einen Spalt breit offen. Panisch rannte ich nach draussen, wo ich die zwei Ausreisser fand, einen knappen halben Meter neben ihnen ein Lastwagen, der am Wenden war. Fragt mich nicht, woher er kam, aber plötzlich war da ein Mann, der die beiden Kinder zu mir brachte. Kein Wort sagte er, er sah mich nur sehr eindringlich an, dann verschwand er wieder und liess mich mit weichen Knien und zwei erstaunten Kindern zurück. 

Noch heute bleibt mir beinahe das Herz stehen, wenn ich daran denke, wie diese Geschichten hätten enden können. Wenn ich jetzt darüber schreibe, was wir Eltern zur Sicherheit unserer Kinder alles beachten müssen, wird mir bewusst, dass all die Vorsichtsmassnahmen zwar wichtig sind, aber bei Weitem nicht reichen. Ohne Schutzengel – oder wie immer man das auch nennen mag – haben wir keine Chance, unsere Kinder zu beschützen. 

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Weihnachtsüberraschung

Versteht mich bitte in den folgenden Zeilen nicht falsch. Ich zähle mich nicht zu den Christen, die jedes Mal wutschnaubend im Kindergarten antraben, wenn von Hexen oder Feen die Rede ist. Ich beschwöre auch nicht gleich die Apokalypse herauf, wenn die Kinder ein „Zaubersprüchlein“ lernen. Schon gar nicht erwarte ich, dass der Kindergarten- und Schulunterricht konfessionell ausgerichtet sind. Wünschte ich dies, dann hätte ich unsere Kinder schon längst an einer christlichen Schule angemeldet, was mir persönlich aber zu einseitig wäre. Womit ich natürlich wiederum niemanden kritisieren möchte, der für seine eigenen Kinder anders entscheidet… Ich sehe schon, ich bewege mich auf dünnem Eis, obschon ich gar nichts Provokatives schreiben will. Vielleicht sollte ich einfach mit meiner Erklärung aufhören und erzählen, was mich heute so überrascht hat.

Da kommt das Prinzchen vom Kindergarten nach Hause – seit einigen Tagen schafft er das jetzt alleine – und präsentiert mir seine Weihnachtsbasteleien. Ein kleines Geschenkpaket, das „Meiner“ und ich natürlich erst am Heiligen Abend auspacken dürfen, einen Schutzengel mit Kerze im Heiligenschein und ein längliches Etwas, das in einer Art Schüssel liegt, die mit blauer Wolle ausgepolstert ist. Was das sei, fragte ich. „Das ist Jesus in seinem Bett“, erklärte das Prinzchen. „Jesus in seinem Bett?“, fragte ich ungläubig, aber nicht etwa, weil das Prinzchen so schlecht gebastelt hätte, dass man das längliche Etwas nicht mit ein wenig Fantasie als Baby hätte erkennen können. „Ja, das ist wirklich Jesus in seinem Bett und daneben ist ein Schutzengel“, beharrte unser Jüngster.

Ich war vollkommen baff. Zum ersten Mal in den acht Jahren, in denen wir nun kindergarten- und schulpflichtige Kinder haben, brachte eines unserer Kinder ein Kind in der Krippe nach Hause. Schutzengel haben wir schon haufenweise, Samichläuse und Sterne ebenfalls, ein paar Rentiere befinden sich auch in unserer Sammlung und wenn ich mich nicht irre, gab’s auch schon irgendwelche Wichtel. Alles mit viel Liebe gebastelt und es käme mir nicht im Traum in den Sinn, die Sujetwahl der Lehrerinnen zu kritisieren, obschon mir das rotnasige Rentier offen gestanden ziemlich auf die Nerven fällt mit seinem ewigen Geblinke. Dass heute, nach all den Jahren zum ersten Mal ein Jesuskind dabei war, stimmt mich aber doch irgendwie nachdenklich. Zu Weihnachten überhaupt nicht über die Weihnachtsgeschichte zu reden ist doch irgendwie ähnlich extrem, wie sie jedem ungefragt um die Ohren zu hauen. 

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Welche Weltanschauung darf’s denn heute sein?

Schlenderst du an einem sonnigen Samstagnachmittag durch die Innenstadt, wird dir spätestens nach fünf Minuten eine Weltanschauung angeboten. Mal sind es die Scientologen, die dich dazu bewegen wollen, dein Lebensglück bei ihnen zu kaufen, mal sind es Zeugen Jehovas, die dir den „Wachtturm“ schenken möchten, dann wieder sind es Politiker jeder Couleur, die dir sagen wollen, was du bei der nächsten Abstimmung auf den Zettel schreiben sollst. Heute warben wenige Schritte voneinander entfernt Moslems für mehr Interesse am Islam und konservative Christen für mehr Interesse am Christentum. Es war ganz unterhaltsam, zu beobachten, wie verschleierte Frauen und Frauen in langen Röcken einander gegenseitig zu bekehren versuchten. Wenn ich mich nicht irre, waren sie gerade dabei, Traktate auszutauschen, als das Prinzchen und ich an ihnen vorbeigingen.

Währenddem wir in Richtung Bushaltestelle gingen, sinnierte ich darüber nach, ob die beiden Frauengruppen sich nicht ähnlicher sind, als ihnen lieb sein kann und ob ich als aktive Kirchgängerin überhaupt so etwas denken darf über andere Christinnen. Vor lauter Nachdenken merkte ich nicht, dass ich einem Unterschriftensammler direkt in die Arme lief. Er sei gegen die Sexualerziehung an den Schulen, erklärte er mir, als ich ihn fragte, worum es denn gehe. Es könne doch nicht sein, dass der Staat überall seine Finger drin habe und das würde ja auch Millionen kosten und… Ich unterbrach seinen Redeschwall und erklärte ihm, dass in meiner idealen Welt, von der ich jeweils träume, die Eltern für eine sorgfältige und kindergerechte Sexualerziehung zuständig seien und dass „Meiner“ und ich diese Verantwortung auch wahrnehmen, dass es aber in der realen Welt, in der ich lebe, leider auch Fünfjährige gebe, deren Sexualerziehung darin bestehe, dass ihnen der grosse Bruder einen Porno zeige. Das sei aber gar nicht gut, fand der Mann, aber der böse Staat und die bösen Lehrer und die verdorbene Welt…

Wieder sah ich mich dazu gezwungen, den Redeschwall zu unterbrechen. Es sei doch keine Lösung, nur zu schimpfen, man müsse doch Wege finden, wie Kinder, deren Eltern sich nicht um die Sexualerziehung kümmern, auf eine angemessene Art aufgeklärt werden. Es wäre ja schön, wir hätten lauter intakte, glückliche Familien in der Schweiz, doch leider sei ich schon zu vielen Eltern begegnet, die nichts auf die Reihe kriegen. „Na, dann sollen diese Leute eben keine Kinder bekommen“, schnauzte mich der Unterschriftensammler an und wandte sich einem neuen – hoffentlich weniger widerspenstigen – Opfer zu.

Gerne hätte ich den Mann darauf hingewiesen, dass eine anständige Sexualerziehung vielleicht im einen oder anderen Fall verhindert hätte, dass junge Menschen Eltern werden, ehe sie reif dazu sind. Stattdessen nahm ich das Prinzchen an der Hand und ging. Auf dem Weg zur Bushaltestelle machte ich einen weiten Bogen um alle, die mit Klemmbrettern und Handzetteln herumstanden.

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Kreuzritter

Das Prinzchen entdeckt derzeit alles gleichzeitig: Die alten Ägypter, die Kunst, seine kämpferische Seite, die Ritter und den christlichen Glauben. Wobei das mit dem Glauben bedenkliche Ausmasse annimmt – und das sage ich, die ich nun wirklich nicht den Atheisten zuzurechnen bin.

Es ist nämlich so: Das Prinzchen hat die Kiste entdeckt, die der Pastor ihm zur Einsegnung geschenkt hat. Darin hat’s eine Kinderbibel, einen Gebetswürfel, ein Holzkreuz mit einem Segensspruch und eine Taufkerze, die er anzünden kann, sollte er sich dereinst dazu entschliessen, sich taufen zu lassen. Den Inhalt dieser Kiste schleppt er nun schon seit Tagen mit sich herum. 

Die Kinderbibel zum Beispiel packt er an dem hübschen, goldenen Bändchen, mit der sie sich verschliessen lässt, schwingt sie durch die Lüfte, knallt sie seinen Mitmenschen um die Ohren und wird damit im wahrsten Sinne des Wortes zum Bible-Beater. Dazwischen will er natürlich auch Geschichten hören, aber wehe dem, der ihm zu erklären versucht, dass es nicht möglich ist, die ganze Bibel an einem Abend zu erzählen. Dann entflammt nämlich Prinzchens heiliger Zorn und glaubt mir, das ist nicht lustig. 

Am bedenklichsten aber ist Prinzchens Umgang mit dem Holzkreuz. „Schau mal Mama“, sagte er zu mir und sah mich drohend an, „dieses Kreuz kann man auch als Schwert brauchen. Ich bin jetzt ein Ritter und kämpfe mit diesem Kreuz gegen die Bösen!“

Ich hoffe, diese aggressive Art der Religionsausübung wächst sich bald aus. Wenn mich dereinst mal einer fragt, was aus dem Prinzchen geworden ist, will ich nämlich nicht verschämt antworten müssen: „Ääääähmmm, er ist jetzt ein Kreuzritter, aber keine Angst, er ist nicht hier, er verteidigt gerade das Heilige Land gegen die Heiden.“

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Nicht wie, sondern wer

Die Präsidentschaftswahlen in den USA haben das Thema mal wieder an die Oberfläche gespült: Evolution oder Schöpfung? Wieder einmal dürfen wir Zeugen sein davon, wie sich die beiden Lager gegenseitig bekämpfen, vor allem in den USA, in abgeschwächter Form auch hier. Die einen halten die anderen für dumm, die anderen die einen für ungläubig und reden kann man schon längst nicht mehr miteinander, weil anbrüllen so viel schöner ist.

Mir gehen diese Grabenkriege gewaltig auf die Nerven. Dieser Hass, dieser giftige Spott, diese Verbissenheit, mit der gegeneinander vorgegangen wird. Ist es die Sache wirklich Wert? Da behaupten beide Seiten, fast bis ins kleinste Detail zu wissen, wie es genau war, obschon weder Theologen noch Naturwissenschafter zugegen waren, als es tatsächlich geschah. Es liegt mir fern, die eine oder die andere Wissenschaft zu verteufeln, sie beide bemühen sich redlich darum, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen, wenn auch von ganz unterschiedlicher Warte aus. Was ich beim besten Willen nicht verstehen kann ist, warum keine der beiden Seiten zugibt, dass man nie alles wissen wird, möge man auch noch so viel Spannendes erforschen.

Es gab eine Zeit, da versuchte ich mitzukämpfen, Argumente dafür und dagegen zu formulieren, doch irgendwann habe ich erkannt, dass die Frage „wie?“ für mich weit weniger wichtig ist als die Frage „wer?“ Denn so sehr ich es auch versucht habe, ich kann mir nicht vorstellen, wie etwas hätte werden sollen – auf welche Weise auch immer -, ohne dass jemand die Idee dazu gehabt hätte. Wo doch nicht mal ein Spiegelei wird, wenn nicht einer kommt und das Ei in die Pfanne haut.

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Aus alt mach neu

Ich war ja davon ausgegangen, dass das Kapitel der uralten Kirchenlieder für mich abgeschlossen sei. Früher, da sangen wir sie Sonntag für Sonntag, die Alten inbrünstig, die Jungen mit grossem Befremden, weil die antiquierte Sprache nicht so ganz zum modernen Leben passen wollte. Einige von uns weigerten sich, mitzusingen, andere bemühten sich krampfhaft darum, die alten Choräle gegen neueres Liedgut einzutauschen. „Es heisst doch, dass man dem Herrn ein neues Lied singen solle. Das alte Zeug hängt ihm bestimmt zum Hals heraus“, argumentierten wir und einige Jahre später wurde das Kirchengesangbuch tatsächlich immer seltener gebraucht, wir atmeten auf und die  älteren Semester trauerten den guten alten Zeiten nach.

Seither habe ich nur noch sehr selten geistliche Lieder gesungen, die älter sind als fünfzehn Jahre. Bis vor einigen Wochen der FeuerwehrRitterRömerPirat das alte Liedgut entdeckt hat. Und plötzlich singe ich wieder „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Schönster Herr Jesus“ und „Welch ein Freund ist unser Jesus“, diesmal nicht aus dem Kirchengesangbuch, sondern aus den Hymnensammlungen im Internet. Ich habe kein Problem damit, meinem Sohn diesen Gefallen zu tun, denn inzwischen befinde ich mich ja nicht mehr im Kampf für eine musikalische Erneuerung des Kirchengesangs. Ich kann sogar gestehen, dass nicht alles, was wir damals singen mussten, hässlich ist. Nun ja, „Auf Brüder, glauben heisst siegen“ wird wohl nie mein Lieblingslied und ich werde es dem FeuerwehrRitterRömerPiraten auch nie vorsingen, aus Angst, dass es sein neues Lieblingsslied werden könnte. Aber ich habe mich arrangiert damit, dass unsere Kinder ein unverkrampfteres Verhältnis zu den Dingen haben, die für uns damals so schlimm waren. Was für uns Zwang war, ist für sie eine Stilrichtung von vielen, was für uns zu verstaubt daherkam,  erleben sie als spannende Ergänzung zu dem Einheitsbrei, mit dem meine Generation sich oft zufrieden gibt.

Eine leise Angst kommt dennoch auf, wenn die Kleinen so auf die alten Lieder fliegen: Was, wenn sie dabei bleiben, wenn sie in ihren wilden Jahren einen Aufstand machen, so wie wir damals, nur mit dem umgekehrten Ziel, nämlich das Kirchengesangbuch wieder einzuführen? Muss ich dann im Alter wieder die gleichen Lieder singen wie in meiner Jugend? Oder werden sie gnädig sein mit uns und sagen: „Ach kommt, lassen wir heute die Orgel wiedermal weg und nehmen wir das Schlagzeug hervor. Wir können den armen Alten doch nicht alles wegnehmen, was ihnen lieb ist…“

Dann eben keine Predigt

Eigentlich hätte ich heute ja diesen unglaublich inspirierenden Text über die Bedeutung meines Glaubens schreiben wollen. Den ganzen Tag über hatten sich in meinem Kopf Sätze gebildet, mit denen ich mich von meinem alten, frömmlerischen Gehabe  distanziert und zu meinem weitaus alltagstauglicheren, aber viel weniger in starre Dogmen fassbaren neuen Glauben bekannt hätte. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was ich alles in diesen Text hineingepackt hätte: Meinen Ärger über Frau Rickli, meine Sorgen darüber, dass Fremdenhass in Europa wieder salonfähig ist, meinen Frust darüber, dass so viel geredet und so wenig getan wird, meine Traurigkeit über mein eigenes Versagen und mein Fazit, dass ich das alles wohl nicht ertragen könnte, würde ich nicht glauben. 

Tja, und dann beschloss ich, zuerst einmal ein paar Büroarbeiten zu erledigen, bevor ich mich ans Niederschreiben meiner tiefschürfenden Gedanken mache. Die Lohnabrechnung der Putzfrau, zwei drei Formulare, die schon längst ausgefüllt sein müssten, den Lohn der Putzfrau vom Konto abheben. Kleinkram nur, der aber leider in den grossen Dramen des Alltags nur zu oft vergessen geht, den ich aber keinen Tag länger mit mir herumtragen will, weil er eben doch belastet. Die Formulare waren schnell erledigt, doch dann stellte ich fest, dass mir ein Dokument fehlte, das ich bei der Arbeit liegen gelassen hatte. Na gut, dann mache ich eben einen kleinen Abendspaziergang, hole das Dokument und gehe dann gleich zur Bank. Vielleicht fallen mir auf dem Weg weitere nette Sätze für meinen Text ein.

Ha, von wegen. Auf halbem Weg stelle ich fest, dass mein Büroschlüssel zu Hause geblieben ist. Umkehren will ich nicht, denn die Strassenlampen im Quartier streiken allesamt und Dunkelheit ist nicht mein Ding. „Na gut, dann hole ich eben nur das Geld. Das Dokument kann ich ja morgen nach der Arbeit mitnehmen“, brumme ich – jawohl, ich habe die schlechte Angewohnheit, mit mir selber zu reden, wenn ich alleine unterwegs bin – und mache mich auf den Weg zur Bank. Wo ich leider feststellen muss, dass auch der Geldautomat streikt und diesmal liegt es ganz bestimmt am Automaten und nicht an meinem Kontostand. Dann eben auf zur nächsten Bank, wo man mich aber nicht einlässt, weil ich die falsche Karte dabei habe. Verärgert mache ich mich auf den Heimweg, um meinen Schlüssel zu holen. Damit ich doch noch das Dokument holen gehen kann, weil ich es nicht mag, unerledigter Dinge ins Bett zu gehen, wo ich mich doch endlich dazu aufgerafft hatte, den Bürokram hinter mich zu bringen. Der Schlüssel aber ist unauffindbar, „Meiner“, den ich sogleich verdächtige, das Ding verlegt zu haben, erweist sich als unschuldig und ich muss mir eingestehen, dass ich mir alles selber eingebrockt habe. Aus Gründen, die ich schon längst nicht mehr nachvollziehen kann, habe ich nämlich heute Nachmittag den Schlüsselbund auf den Waldspaziergang mitgenommen und danach nicht mehr an seinen Platz zurückgelegt. Fragt mich bitte nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, dass dem Schlüsselbund ein wenig frische Waldluft guttun würde.

Da es inzwischen schon fast Mitternacht ist, beschliesse ich ziemlich verärgert, doch wieder alles auf morgen zu verschieben. Der Elan, endlich reinen Bürotisch zu machen, ist verflogen, die Lust, einen unglaublich inspirierenden Text über meinen Glauben zu schreiben ebenfalls und so bleibt mein einziger Trost, dass zumindest die Atheisten unter meinen Lesern zufrieden sind, weil sie meiner Sonntagspredigt entgangen sind.