Wo er sich schon mal daran gewöhnt hat, sich um den alltäglichen Kleinkram zu kümmern, hat „Meiner“ diese Woche gleich weitergemacht. Am Donnerstag setzte er sich hin, um ein paar Mails zu schreiben.
Er bestellte beim Tageselternverein eine Bescheinigung für Zoowärters Mittagstischbetreuung.
Antwort: „Liebe Frau Venditti…“
Er fragte bei der Tagesschule nach, ob die Bestätigung für die Einforderung der Kinderzulagen bereits verschickt worden sei.
Antwort: „Liebe Frau Venditti…“
Er erkundigte sich, wie das nun mit Prinzchens Kochkurs sei, der im April Corona-bedingt ins Wasser gefallen war.
Antwort: „Liebe Frau Venditti…“
Er fragte beim Schlüsselservice nach, welche Angaben benötigt werden, um Hausschlüssel nachmachen zu lassen.
Ich sitze im Büro bei der Arbeit, mein Handy klingelt.
„Grüezi Frau Venditti, ich bin die Therapeutin Ihres Sohnes. Hätten Sie kurz Zeit für ein Gespräch?“
„Das ist leider grad ziemlich ungünstig. Ich bin bei der Arbeit und stecke mitten in einer Sache, die vor Feierabend noch fertig werden muss. Ginge es vielleicht in zwei Stunden?“
„Ach so, Sie arbeiten? Ist ja interessant. Was denn, wenn ich fragen darf?… Als Redakteurin? Spannend!… Im Homeoffice?…Immer, nicht nur wegen Corona?…. Wirklich ausgesprochen spannend, dann haben Sie uns allen ganz viel voraus in diesen Zeiten. Aber jetzt müssen Sie ja arbeiten, ich will Sie nicht länger aufhalten.“
Zwei Stunden später:
„Also, Frau Venditti, es ist so, dass wir die Gelegenheit hätten für einen kurzen Austausch mit einer Fachperson. Ihr Sohn könnte ja in gewissen Bereichen durchaus noch Unterstützung brauchen und da wäre ein solches Gespräch bestimmt hilfreich.“
Ich stimme ihr zu, dass eine derartige Standortbestimmung nicht schaden würde und wir unterhalten uns darüber, was denn bei diesem Gespräch alles besprochen werden müsste, wer dabei sein sollte, wann es stattfinden wird (der Termin ist bereits fix, in zwei Wochen, morgens um 9, Verschieben nicht möglich, aber Frau Venditti arbeitet ja im Homeoffice und kann sich bei Bedarf beliebig verrenken, damit alles passt) und welche Formalitäten im Voraus noch zu erledigen sind.
Da alles ziemlich kurzfristig sei, müsse sie schauen, ob sie das alles noch rechtzeitig aufgleisen könne, meint die Frau, aber sie werde das schon irgendwie hinkriegen, wenn sie sich jetzt gleich an die Arbeit mache. Als alles fertig besprochen ist, sagt sie:
„Gut, dann rufe ich Sie morgen noch einmal an. So haben Sie heute Abend noch etwas Bedenkzeit und können sich überlegen, ob Sie das Gespräch möchten oder nicht.“
„Bedenkzeit? Die brauche ich eigentlich nicht, für mich ist es okay so, wie wir das besprochen haben.“
„Ach, Sie können das so spontan entscheiden? Aber müssen Sie denn nicht erst noch Ihren Mann fragen, ob er auch einverstanden ist?“
Ja, und jetzt weiss ich halt auch nicht, ob ich nicht vielleicht etwas zu weit gegangen bin. Immerhin habe ich grad ohne mit der Wimper zu zucken zugesagt, mich 45 Minuten lang mit Fachleuten über die Zukunft unseres Sohnes zu unterhalten – und das, ohne meinen Mann um Erlaubnis zu bitten.
Auf diesem Planeten leben unglaublich viele kluge, beeindruckende und ganz und gar nette junge Menschen. Daneben gibt es in der Generation unserer Kinder – genau wie in jeder anderen Generation – ein paar Vertreter, die einen an der Menschheit zweifeln lassen. Leider hatte ich in letzter Zeit gleich mehrmals das Pech, mit solchen Jugendlichen im Bus zu sitzen.
Da war zum Beispiel die junge Frau, die sich in der Stosszeit demonstrativ so hinsetzte, dass der Fensterplatz zu ihrer Rechten frei blieb. Die alte Dame, die es wagte, sich an ihren Knien vorbei zu zwängen, um den einzigen freien Platz im Bus zu ergattern, bedachte sie mit giftigen Blicken. Den alten, zittrigen Mann, der sich ein paar Schritte von ihrem bequemen Sitzplatz entfernt mit beiden Händen an der Stange festklammerte, um bei der nächsten Kurve nicht hinzufallen, ignorierte sie geflissentlich. Auch dann noch, als eine Passagierin sie darum bat, den Sitzplatz doch bitte freizugeben. Ungerührt bliebt sie sitzen und scrollte durch ihre Nachrichten, während der alte Mann sich nach Kräften darum bemühte, auf beiden Füssen zu bleiben und sich dabei nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm das alles zusetzte.
Da war der Rotzbengel, der sich mit seinen Freunden laut vernehmlich über „diese elenden Schleiereulen“ lustig machte – wohl wissend, dass eine junge Frau mit Kopftuch keinen Meter von ihm entfernt stand und jedes einzelne seiner verächtlichen Worte verstehen konnte.
Da war die frischgebackene Berufsfrau, die mit unverkennbarem Stolz verkündete, sie sei doch nicht so doof wie alle anderen. Von den acht Arbeitsstunden, die sie täglich zu leisten habe, sei sie allerhöchstens drei oder vier Stunden produktiv. Mehr könne man von einem Menschen wirklich nicht erwarten.
Da waren die zwei Halbstarken, die laut herumpöbelten und für alles, was weiblich ist, nur ein einziges F-Wort kannten – und zwar nicht dasjenige, das mit F beginnt und mit -rauen endet.
Alle diese jungen Menschen hatten eins gemeinsam: Sie hatten es irgendwie fertig gebracht, durch die Volksschule zu kommen, eine Lehrstelle zu ergattern oder bereits einen Abschluss in der Tasche zu haben. Sie alle hatten in einem Bewerbungsverfahren Konkurrenten ausgestochen, weil jemand sie für kompetenter als andere gehalten hatte.
„Na und, das kann dir doch egal sein. Die führen sich im Berufsleben bestimmt ganz anders auf als nach Feierabend im Bus“, wird man mir jetzt sagen und mit grosser Wahrscheinlichkeit stimmt das auch.
Dennoch sind solche unfreiwilligen Begegnungen an manchen Tagen nicht nur schwer auszuhalten, sondern einfach nur schmerzhaft.
Zum Beispiel, wenn der Sohn einen Termin bei der Berufsberatung hat und dort gesagt bekommt, sein Zeugnis würde in einem Lehrbetrieb nicht mal angeschaut, damit habe er nicht die geringste Chance. Ein Zeugnis, wohlgemerkt, das detailliert aufzeigt, dass der Junge dank fleissigem Einsatz auf gutem Weg ist, von der Sonderschule aus den Anschluss an die Berufswelt zu schaffen. Dieser Junge, der schon zahlreiche Schwierigkeiten gemeistert und dabei gelernt hat, trotz so mancher Demütigung anständig zu bleiben, darf sich anhören, man sehe ihm seine Einschränkung halt schon ein wenig an, die Stellensuche werde sich da leider schwieriger gestalten als bei einem „normalen“ Jugendlichen.
Der Junge hat diese Aussagen zum Glück einigermassen gut weggesteckt. Und weil er von seinen Lehrerinnen und anderen Fachleuten gut begleitet wird, besteht die Hoffnung, dass er seine Nische finden wird.
Dennoch tun solche Sätze weh.
Erst recht, wenn der Eindruck davon, wie sich einige dieser „normalen“ Jugendlichen aufführen, noch so frisch ist.
Grün ist in – das hat inzwischen wohl jedes Kind begriffen. Na ja, eigentlich haben es vor allem die Kinder begriffen und die Erwachsenen zeigen sich mehr oder weniger einsichtig. Während die einen so tun, als könnten wir ewig so weitermachen wie bis jetzt, lassen sich andere durch die Jugendlichen zum Nachdenken anregen. Und dann gibt es natürlich noch diejenigen, die sich fragen, wie man den Trend zu Geld machen kann.
Das sind dann die Leute, die eine Werbeanzeige im Bus schalten, mit der sie umweltbewusste Passagiere dazu bringen wollen, sich ins Auto zu setzen und 50 Kilometer weit nach Süddeutschland zu fahren, um sich dort mit frischen Bio-Lebensmitteln einzudecken. Weil Menschen, denen die Natur am Herzen liegt, ja nichts lieber tun, als möglichst weite Wege zurückzulegen, um bewusst einzukaufen.
Da sitzen wir beiden gemütlich beim Tee, unterhalten uns über dies und das, geniessen die seltene Gelegenheit, an einem ganz gewöhnlichen Werktagsmorgen Zeit zu zweit zu haben. Draussen in der Fussgängerzone zieht bei strömendem Regen die Klimajugend vorbei, gefolgt von nicht wenigen klimabewegten Mittelalterlichen und Alten. Unser Gespräch stockt und verstummt schliesslich ganz. Wir schauen uns an, stellen mit leiser Belustigung fest, dass uns beiden die Tränen der Rührung in den Augen stehen.
„Möchtest du auch mitgehen?“, fragt „Meiner“.
„Wenn ich heute nichts los hätte, würde ich“, sage ich seufzend.
Dann schweigen wir wieder, denken an unsere zwei Ältesten, die jetzt gerade in einer anderen Stadt das gleiche Anliegen auf die Strasse tragen. Die einen ihrer freien Halbtage geopfert haben, um den Festgefahrenen zu sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Die am Familientisch immer öfter darüber reden, was sich bei uns zu Hause ändern müsste. Die sich ernsthaft mit der Frage auseinander setzen, ob Auto, Flugzeug und Peperoni im Winter wirklich unverzichtbar sind.
Jetzt, wo wir an die beiden denken, kullern erst recht die Tränen.
Wir sentimentalen alten Narren…
Was können wir uns doch glücklich schätzen, Eltern von Jugendlichen zu sein, die offenbar mehr Verstand haben als ihre Vorfahren.
An alle, die auf Twitter & Co. behaupten, eine Fünfzehnjährige würde nie von sich aus auf die Idee kommen, den Mächtigen der Welt die Leviten zu lesen:
Ich lade euch herzlich dazu ein, bei uns am Tisch zu sitzen, wenn Luise von der Schule nach Hause kommt, damit ihr mal miterleben könnt, welche Gedanken sich junge Frauen heute so machen. Plant am besten genügend Zeit ein, denn wenn Luise mal loslegt, dann dauert das lange. So lange, bis sie den Eindruck hat, es sei ihr gelungen, ihr Gegenüber zu überzeugen. Oder bis sie ansatzweise eine Idee gefunden hat, wie die Welt noch zu retten sei. Oder bis sie ihrem Ärger über die Bornierten, die nicht sehen wollen, dass kein Mensch wertlos ist, soweit Luft gemacht hat, dass ihr Kopf wieder frei ist für andere Dinge.
Egal, zu welcher Diskussion sie sich gerade angestachelt sieht – Umweltschutz, Rassismus, Sexismus, Ausbeutung, Lohnungleichheit -, wenn sie erst mal in Fahrt ist, sprudeln die Argumente nur so aus ihr heraus. Und glaubt mir, das, was sie zu sagen hat, ist durchdacht und ergibt einen Sinn. Klar, wenn sich alles ein wenig gesetzt hat, findet man durchaus Lücken in ihrer Argumentation und natürlich muss man ihr als halbwegs reifer Erwachsener auch mal erklären, die Welt lasse sich nicht ganz so leicht in Gut und Böse einteilen. Doch das ist nicht der Punkt.
Der Punkt ist, dass Fünfzehnjährige sich sehr wohl Gedanken machen über unsere Gesellschaft und unsere Welt. Sie sehen sonnenklar, dass die Generation, die am Steuer sitzt, gerade dabei ist, den Karren gegen die Wand zu fahren. Und sie zerbrechen sich den Kopf darüber, warum wir, die wir doch eigentlich erwachsen wären, das nicht sehen. Natürlich hätte nicht jede den Mut, ihre Sicht der Dinge vor grossem Publikum vorzutragen, aber das heisst nicht, dass die heranwachsende Generation sich keine Gedanken macht.
Also hört auf, darüber zu spekulieren, wer die junge Frau, die am Weltklimagipfel Klartext geredet hat, wohl angestachelt haben könnte. Fragt euch lieber, warum Fünfzehnjährige euch nicht mehr zutrauen, dass ihr schon die richtigen Entscheidungen für unseren Planeten treffen werdet.
Man behauptet ja gerne, wir alle würden uns nur noch in unserer eigenen Filterblase bewegen und hätten keine Ahnung mehr davon, wie andere Menschen die Welt sehen. Doch wie war das eigentlich damals, als die Hauptinformationsquellen die Tageszeitung, Nachrichtensendungen und der Tratsch im Quartier waren?
Ich erinnere mich noch lebhaft an die Zeiten, als man sich nie mit der Aussage konfrontiert sah, Eltern seien „Kinderhalter“ und es mache nicht den geringsten Unterschied, ob man ein Haustier oder ein Kind zu betreuen habe. Als man noch nicht wusste, zu welcher Gewalt an Rechtschreibung und Grammatik manche Menschen fähig sind, weil Korrektoren alles dafür taten, dass solche Gräuel dem Auge der Leserin verborgen blieben. Als man sich noch einreden konnte, der Rassismus befinde sich auf dem Rückzug, weil man nicht mit Menschen verkehrte, die sich aufgrund ihrer Hautfarbe für etwas Besseres hielten. Als Menschen, die einander wildfremd waren, nicht im Traum auf die Idee gekommen wären, in aller Öffentlichkeit eine gehässige Diskussion über politische, religiöse oder andere Differenzen vom Zaun zu brechen. Als man noch glaubte, man sei von lauter vernünftigen Menschen umgeben, da keiner ungefragt in die Welt hinaus posaunte: „Ich glaube jede Verschwörungstheorie, die gerade im Umlauf ist, schere mich einen Dreck um den Klimawandel und bin im Weiteren fest davon überzeugt, dass die Erde eine Scheibe ist.“
Man mied die Menschen, die das Heu ganz und gar nicht auf der gleichen Bühne hatten, liess sich mit Fremden nicht auf allzu kontroverse Themen ein und abonnierte keine Blätter, die verqueres Gedankengut verbreiteten. War das vielleicht kein Leben in der Filterblase?
Möglicherweise haben wir damals einfach ein wenig selbstbestimmter gefiltert, wen und was wir an uns heranlassen…
Der Kaminfeger, der dir ungefragt seine Meinung über Ölheizungen (das Beste, was es auf dieser Welt gibt), den Vaterschaftsurlaub (ein unnötiger Mist, über den man nur redet, weil die Frauen heute zu verweichlicht sind, um sich alleine um den Nachwuchs zu kümmern) und die heutigen Eltern (lauter Loser, die keine Ahnung haben vom Leben) vor die Füsse knallt.
Der Sitznachbar im Bus, der dich fragt, ob du verstanden hättest, was die zwei Männer miteinander geredet hätten, nur um dir dann für den Rest der Fahrt erzählen zu können, was er von diesen zwei Männern im Speziellen (nichts) und von Afrikanern im Allgemeinen (noch einmal nichts) hält.
Die Frau im Wartezimmer, die dir – kaum hast du ihr erklärt, du möchtest deine Wartezeit gerne zum Arbeiten nutzen – die traurige Lebensgeschichte ihrer Cousine zweiten Grades zu erzählen beginnt und auch dann nicht aufhört, als du anfängst, demonstrativ in die Tasten zu hauen.
Der Typ in der Warteschlange, der dir voller Stolz erzählt, wenn ein Rentner hinter ihm an der Kasse drängle, frage er ihn, ob er ein Rendezvous mit dem Tod habe. (Worauf ich ihm erzähle, wenn meine Kinder sich darüber wunderten, dass ich mit jedem rede, würde ich ihnen jeweils sagen, solange mir einer nicht zweifelsfrei bewiesen habe, dass er ein Idiot sei, würde ich versuchen, nett zu bleiben. Wodurch er sich natürlich nicht angesprochen fühlte, da ich weiterhin nett und freundlich blieb.)
Manchmal verstehe ich ja schon, warum sich die Menschen lieber hinter ihren Computern verschanzen, wo man solche Leute einfach blockieren kann.
Furchterregende Filmaufnahmen von Schlamm und Geröll, die sich ins Tal wälzen und dies schon zum zweiten Mal innert kürzester Zeit.
Erschütternde Berichte über Menschen, die seit Tagen schon in den Fluten ausharren.
Ein Artikel, der der Frage nachgeht, weshalb uns das Schicksal der Flutopfer am einen Ort näher geht als dasjenige der Flutopfer am andern Ort.
Endlos viel Wasser, Schutt und Leid wohin man auch blickt.
Wettergejammer von betrübten Mitmenschen, die nun schon zwei Tage Regenwetter hinter sich haben und denen allmählich mit Schrecken bewusst wird, dass die warmen Tage des Jahres wohl gezählt sind.
Klar, mit Betroffenheitsposts über das Leiden der anderen könnten sie das Schlimme auch nicht ungeschehen machen, aber wäre es denn so schwierig, das Wettergejammer wenigstens vorübergehend einzustellen?
Samstagnachmittag in der ziemlich belebten Fussgängerzone, einige Mädchen stehen zusammen und unterhalten sich. Ein älterer Mann hastet an der Gruppe vorbei und rammt einem der Mädchen mit voller Absicht den Ellbogen in den Rücken. Das Ganze geht so schnell, dass niemand reagieren kann, weder die Mädchen noch die Passanten, die das Geschehen verdattert beobachten.
Würde mich nicht wundern, wenn das einer von denen wäre, die bei jeder Gelegenheit lautstark lamentieren, die „Jugend von heute“ habe keinen Respekt mehr vor dem Alter.