Standortbeurteilung

Früher nannten sie es Beurteilungsgespräch. Das Kind bekam in der Schule oder im Kindergarten einen Fragebogen mit Smiley-Gesichtern, auf dem es einzeichnen durfte, was es gut kann und was ihm Mühe bereitet. Die Lehrerin füllte den gleichen Bogen aus, dann wurden Eltern und Kind zu einem Gespräch eingeladen. Das Kind stand im Zentrum, man sprach über sein Wohlbefinden, über seine Stärken und seine Schwächen. Man liess das Kind reden, stärkte sein Selbstbewusstsein mit lobenden Worten und einigen Hinweisen, was es besser machen könnte. Das Beurteilungsgespräch war nicht perfekt, es gab immer wieder Eltern, die mit einem mulmigen Gefühl nach Hause gingen. Heute erinnert man sich dennoch sehnsüchtig an das Beurteilungsgespräch zurück.

Der Begriff „Beurteilungsgespräch“ wurde abgeschafft, man spricht jetzt von „Standortgespräch“. Das läuft so ab: Man zitiert die Eltern zum Gespräch – je nach Lehrperson bitte lieber ohne Kind – und präsentiert ihnen einen Zettel mit Kreuzen drauf. „Trifft in hohem Masse zu“ – gibt es nicht. „Trifft zu“ – wen interessiert das schon? Über das, was gut läuft, braucht man nicht zu reden. „Trifft teilweise zu“ – hier wird es allmählich interessant. „Wenn wir in diesem Bereich nichts unternehmen, besteht die Gefahr, dass es zu einem Defizit kommt“, heisst es dann. „Es ist natürlich nicht dramatisch, aber eine Fördermaßnahme wäre angezeigt“ oder „Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Ihr Kind hier ein Problem hat?“ Die Spalte „Trifft nicht zu“ bleibt gewöhnlich leer, aber der Hinweis „Wir wollen doch nicht, dass das Kind hier landet“ macht sich immer mal wieder gut, wenn das Kind nicht den gewünschten Einsatz zeigt.

Der Hauptteil des Gesprächs dreht sich um „Trifft teilweise zu“, wenn man Glück hat, fällt irgendwann noch die Bemerkung, dass man eigentlich ganz zufrieden sei mit dem Kind und dann steht man plötzlich auf der Strasse und fragt sich, ob man in den falschen Film geraten ist. Da will man nicht mehr von „Beurteilung“ reden, tut aber genau das in einem Mass, dass man sich als Eltern fragen muss, was aus dem Wohlwollen geworden ist, auf das die Kinder so sehr angewiesen sind, um sich gesund entwickeln zu können.

6 Gedanken zu “Standortbeurteilung

  1. Man verspricht sich ja, dass die Integration genau diese Probleme lösen sollte. Nur habe ich den Eindruck, dass man inzwischen jedes zweite Kind zum Therapiefall machen muss, damit all die Spezialisten beschäftigt bleiben. Und für die Kinder, die wirklich von einer Unterstützung profitieren würden, bleibt wohl noch immer keine Zeit.

  2. Das stimmt leider. Ich finde es ja ganz gut, dass es Therapiemöglichkeiten gibt, aber wo man während unserer Schulzeit zu wenig gemacht hat, macht man heute zu viel.

  3. Leider ist es kein Einzelfall und die Lehrer sind such nur bedingt dafür verantwortlich. Man verlangt das inzwischen so und mir scheint, dass niemand so richtig glücklich wird damit, mal abgesehen von den Bürokraten, die sich mit solchem Schwachsinn eine goldene Nase verdienen.

  4. Ich hoffe das Erlebnis bleibt ein Einzelfall und auf eine einzelne Lehrkraft beschränkt. Kinder wie Eltern motiviert man leichter zu einem bestimmten Verhalten, indem man sie lobt, nicht indem man alle möglichen Defizite ankreidet. Und Smileys sind tausend mal besser als „trifft zu“ ;-).

  5. „es gehört doch heute schon fast zum Guten Ton, seine Kinder zumindest in der Ergotherapie und in der Logopädie gehabt zu haben“ rollte just heute unser Kinderarzt mit den Augen.

    Inzwischen muss alles dokumentiert und klagefest sein, die Lehrer müssen sich absichern, die Eltern rechtzeitig über ´mögliche´ Abweichungen/Verzögerungen informiert zu haben. Die positive Lernumgebung ist da eher hinderlich – da nicht messbar. Traurig, das.

  6. Ich hatte jeweils bis zum Kiga den Eindruck gesunde,muntere gut entwickelte Kinder zu haben. Kaum ein halbes Jahr dort, begannen die Defizite. Ich kenne fast kein Kind das nicht zum Schulpsychologen musste in meinem Umkreis.Und dann noch das Beste…die Ärzte und Betreuer unserer leicht geistig behinderten Tochter, wollten dass Sarina den Kiga im Dorf machen kann und später dann in eine Sonderschule wechselt. Sie hätte eine Hilfe aus der Schürmatt bekommen,die an gewissen Tagen unterstützt. Nein,für eine zusätzliche Person sei kein Platz und Sarina musste nach 6 Monaten sofort aus dem Kiga da es drei Ausländerkinder hatte,die kein Wort Deutsch konnten und die Zeit der Lehrerin beanspruchten….und das obwohl wir vor dem Kiga Eintritt genau abklärten ob Sarina dort kommen darf. Irgendwie bin ich froh nicht mehr so sehr mit der Schule in Berührung zu stehen und wenn dann durch unsere Teenie Pflegekinder. Irgendwie ist es dort immer einfacher. Die haben irgendwie einen Sonderstatus und gelten sowieso „als nicht normal einstufbar“ bei den Lehrer….

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