Gesetzestreu

Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz für Kleinkinder zu geben, das da heisst: Du darfst den ganzen Tag über quengelig und ungeduldig sein, aber pausenlos schreien, bis sich deine Eltern und das Au-Pair ernsthafte Sorgen machen, darfst du erst fünf Minuten nach Ladenschluss der örtlichen Apotheke. Oder drei Minuten nachdem in der Kinderarztpraxis keine Anrufe mehr entgegengenommen werden. Oder in der Nacht von Samstag auf Sonntag.

Ich weiss nicht, wie andere Kinder es damit halten, aber unsere legen in diesem Bereich eine Gesetzestreue an den Tag, die jeden Gesetzeshüter zum Strahlen bringen würde. So zum Beispiel heute das Prinzchen. Den ganzen Tag sabberte er sich die Kleider nass und wer ihm zu nahe kam, wurde mit einem entrüsteten „Hööö uff!“ angeraunzt. Nichts Aussergewöhnliches also, das Kind wird wohl am Zahnen sein, dachten das Au-Pair und ich. Dann aber, pünktlich zum Ladenschluss der Apotheke, fing er an zu heulen. Und „Aua! Weh!“ zu brüllen. Und sich immer wieder an den Hals zu greifen. So lange, bis wir alle, Zoowärter eingeschlossen, anfingen, uns Sorgen zu machen um ihn.

In solchen Momenten weiss man ja nie so recht, wie man reagieren soll. Rennt man zur Notfallapotheke, werfen sie einem vor, man hätte schon längst zum Arzt gehen sollen. Geht man zum Notarzt meint er nur, wegen dieser Kleinigkeit hätte man nicht kommen müssen. Begibt man sich gar ins Spital, hört das Kind, kaum liegt es nach Stunden des Wartens auf dem Behandlungstisch, mit dem Geheul auf und ist wieder quietschfidel. Nach langem Hin und Her entschlossen wir uns dazu, es mit der neuen Bahnhofapotheke im Nachbarort zu versuchen. Die hat abends bis zehn Uhr offen, also würden wir ganz bestimmt niemanden ausserhalb seiner gewohnten Arbeitszeit stören. Und sollte sich das Problem als schwerwiegender herausstellen, würde man uns dort schon befehlen, sofort zum Arzt zu gehen.

Die Bahnhofapotheke stellte sich dann fürs Erste auch als die richtige Lösung heraus. Das Prinzchen weigerte sich zwar standhaft, weiter zu brüllen, damit wir in seinen Mund hätten schauen können, aber kleine Bläschen an der Zungenspitze und im Mundwinkel liessen die Apothekerin darauf schliessen, dass da wohl schmerzstillendes Zahngel und etwas Entzündungshemmendes angebracht wären. Womit das Prinzchen ziemlich zufrieden war und bald schon friedlich einschlief.

Doch wenn ich sein erneutes Gebrüll vor ein paar Minuten richtig interpretiere, scheint er zu spüren, dass der Ladenschluss der Bahnhofapotheke naht. Mal schauen, wie lang die heutige Nacht wird…

8 Gedanken zu “Gesetzestreu

  1. Oh ja, das kenne ich auch. Allerdings war es bei uns damals – auch in Österreich – für einmal kein Fehlalarm, sondern Karlssons geplatzter Blinddarm. Damit das Ganze doch noch ein wenig Spass machte, liessen wir uns mit der Ambulanz kutschieren, da wir zum ersten Mal ganz ohne Auto in die Ferien verreist waren.

  2. Ganz toll übrigens auch in den Ferien in einer fremden (wenn auch immerhin „nur“ österreichischen) Stadt. Die liebste Freundin hat mich und das wirklich totkrank erscheinende Madämsche dann um Mitternacht noch in die Kinderklinik gefahren. Dort war die Kleine dann natürlich wieder topfit 😉

  3. Wie bin ich doch beruhigt, dass dies selbst einer Apothekerin passiert! Ich fühle mich nämlich jedes Mal so blöd, wenn ich wieder mal wegen nichts gerannt bin und denke dann jeweils: „Hättest du was Anständiges gelernt- zum Beispiel einen medizinischen Beruf – dann wäre dir das nicht passiert.“

  4. Das kommt mir doch sehr bekannt vor. Gut, ich habe noch die Möglichkeit auch Nachts noch rasch etwas aus „unserer“ Apotheke zu holen – immerhin habe ich den Schlüssel 🙂 der grösste „Hausapothekenschrank“ sozusagen. Ich habe mehr das Problem: „Soll ich damit jetzt zum Arzt?“ Ich will ja nicht wegen einer Bagatelle hin, aber auch nicht den richtigen Moment verpassen. Naja, das letzte Mal war es dann so, dass es Junior (vorher zu krank zum laufen) beim Arzt wieder bestens ging. Wiederauferstehung des sterbenden Schwans sozusagen. Nach Hause ist er dann gerannt. Grrrr.

  5. Gerne gelesen 🙂
    Meine hübschen Mitbowohner sind nun aus dem Gröbsten heraus. Jedoch erinnere ich, dass sie vor Jahren aus so gesetzestreue Knäblein waren. Sie hielten sich streng daran, jeden 2ten Mittwochnachmittag einen mittelschweren Unfall zu haben, sodaß ich gezwungen war immer die Notaufnahme des Kreiskrankenhauses aufzusuchen.
    Dort machte man mir eines Tages den Vorschlag, man wolle mir ein Zimmer reservieren, dort könne ich ein paar Sachen der Hübschen deponieren, besser noch, die beiden gleich selbst deponieren, das würde mir die Anfahrt und ihnen den Papierkram ersparen ;-p

    L G Marie

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