Keine Rücksicht

Wir leben in einem Land, in dem es dir abends um Viertel vor zehn passieren kann, dass du grob angefahren wirst, weil deine übermüdeten Kinder nach einem Ausflug, der ausnahmsweise etwas länger gedauert hat, im Familienwaggon des Zuges laut sind. Oh ja, sie waren wirklich laut, „Meiner“ und ich haben sie mehrmals darum gebeten, etwas leiser zu sein. Aber sie waren die einzigen Kinder, die Rutschbahn und Holzboot in Anspruch nahmen, es hatte genügend freie Plätze im Zug, so dass man unseren Kindern aus dem Weg gehen konnte, FeuerwehrRitterRömerPirat, Zoowärter und Prinzchen tobten nur dort herum, wo herumtoben ausdrücklich erlaubt ist und wir sassen gerade mal fünfundzwanzig Minuten lang in diesem Zug.

Darum antwortete ich, als ein junger Schnösel gehässig fragte, ob ich denn meinen Kindern nicht endlich sagen könne, sie sollten ruhig sein, dass ich dies weder tun könne noch wolle, weil wir hier im Familienwaggon seien. Wenn ihm der Kinderlärm nicht passe, solle er sich eben anderswo hinsetzen. Es sei ihm egal, ob das hier der Familienwaggon sei, es sei jetzt schliesslich abends um zehn und meine Kinder gehörten ins Bett, nicht in den Familienwaggon, schnauzte er mich an, doch für einmal weigerte ich mich, Rücksicht zu nehmen.

Weil wir an allen anderen Orten Rücksicht nehmen, oder es zumindest versuchen. Im Bus, im Laden, im gewöhnlichen Zugabteil, im Museum, beim Öffnen einer schweren Tür,an der Bushaltestelle, im Schuhgeschäft, auf dem Trottoir, auf dem Waldweg, im Café, im Schwimmbad, ja, sogar auf dem Spielplatz, wenn andere Kinder dort spielen – überall sind wir pausenlos damit beschäftigt, unsere Kinder zur Rücksichtnahme aufzufordern. „Geh zur Seite, da möchte jemand mit seinem Pferd durch“, tönt es auf dem Waldweg. „Nein, du kannst diese Türe nicht alleine öffnen, die Leute hinter uns werden schon ungeduldig“, erklären wir, wenn ein kleiner Mensch beweisen möchte, wie stark er ist. „Spring nicht ins Wasser! Die Frau dort drüben möchte nicht, dass ihr Haar beim Schwimmen nass wird“, ermahnen wir im Schwimmbad. Und wehe, wir weisen unsere Kinder nicht rechtzeitig in die Schranken!

Obschon es mich zuweilen gewaltig nervt, die Kinder pausenlos an der kurzen Leine halten zu müssen, so akzeptiere ich doch, dass es in einem kleinen, dicht besiedelten Land oft nicht anders geht. Wenn unsere Kinder sich aber an einem eigens für Kinder eingerichteten Ort wie Kinder aufführen, fühle ich mich nicht zur Rücksichtnahme verpflichtet. Auch dann nicht, wenn einer, der vor wenigen Jahren selber noch Kind war, felsenfest davon überzeugt ist, dass der Familienwaggon nur ein Familienwaggon ist, solange es draussen noch hell ist.

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2 Gedanken zu “Keine Rücksicht

  1. Gewöhnlich bin ich ja auch für die freundliche Variante, doch wenn Kinder nicht mal mehr im Kinderbereich lebhaft sein dürfen, platzt mir der Kragen. Wenn ich meine Kinder dafür verteidigen muss, dass sie fröhlich sind, läuft eindeutig etwas schief…

  2. Das sind die Situationen, in denen ich oft erst eine halbe Stunde später eine gute (schlagfertige und gleichzeitig freundliche) Antwort parat habe. Entweder ich bin völlig perplex und unternehme einen erfolglosen (da wenig überzeugenden Versuch) den Nachwuchs doch noch „unter Kontrolle zu bringen“ oder ich werde patzig. Aber gut… wer jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, kommt nach und nach in Übung. Und in den allermeisten Fällen hilft eine freundliche Erklärung wie „Wissen Sie, er müsste eigentlich schon im Bett sein und ich kann ja auch verstehen, dass er das Gedränge im Bus unangenehm findet. Außerdem hat er Hunger. An seiner Stelle würde ich jetzt auch meckern…“ Naja und die „das ist der Familienwaggon und was fällt Ihnen überhaupt ein mir etwas über Kindererziehung erzählen zu wollen!?!?“-Variante wird oft auch von Umstehenden unterstützt.

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