Armes Wunderkind

Zuweilen trifft man auf Mütter, deren Kinder wahre Genies sind. Zum Beispiel bei der Ballettaufführung, wo die Mutter dir während der Pause mit vor Stolz geschwellter Brust erzählt, was für ein Naturtalent ihr Töchterlein doch sei. „Hast du gesehen, mit welcher Eleganz sie das macht?“, prahlt sie ungeniert und du denkst dir, dass jeder Elefant eleganter aussieht beim Ballet, aber natürlich nickst du nur freundlich und sagst nichts. Das Wunderkind steht daneben und sagt auch nichts.

Zwei Monate später hat die Primaballerina das Tutu gegen den Klavierstuhl eingetauscht. Das Kind muss unbedingt früher als alle anderen Klavierstunden nehmen, denn „es spielt Tag und Nacht Klavier und die Gotte hat auch bestätigt, dass das Kind so unglaublich viel Talent hat. Und die Gotte hat ja selber auch einmal zwei Jahre lang Klavier gespielt.“ Erzählt die Mutter, während das Kind schweigend  daneben steht. Und so  nimmt das Wunderkind jetzt Klavierstunden und hat natürlich keine Zeit mehr für Ballettunterricht.

Ein halbes Jahr später triffst du die ganze Familie Wunderkind auf dem Fussballplatz an: „Die Kleine hat einfach keine Ruhe mehr gegeben. Sie will unbedingt Fussball spielen. Und schau mal, wie schnell sie ist. Ich glaube, sie hat wirklich Talent.“ Wie immer, wenn von dem Wunderkind die Rede ist, nickst du höflich und verkneifst dir eine spitze Bemerkung. Auch diesmal nimmt das Wunderkind keine Stellung zu den Aussagen der Mutter. Es kann ja nicht, denn es muss dem Ball hinterher rennen, weil sonst die Mama enttäuscht ist.

Bald schon triffst du Familie Wunderkind beim Violinenunterricht wieder, weil „die Kleine einfach nicht mehr ohne eine Violine sein konnte. Und die Lehrerin will sie unbedingt behalten.“ Oder vielleicht auch bei einer Theateraufführung, wo das Wunderkind krampfhaft versucht, seine Rolle auszufüllen. Oder vielleicht auch wieder im Ballett, „weil sie es jetzt unbedingt noch einmal mit Ballett probieren wollte“. Irgendwann stellst du die schüchterne Frage, ob dem Wunderkind denn all dies nicht etwas zu viel werde, aber du erfährst, dass es ja ohnehin Klassenbeste ist und sich so fürchterlich langweilt, wenn es seine Talente nicht ausleben kann.

Dann verlierst du das Wunderkind für einige Zeit aus den Augen. Und wenn du es wieder triffst, fragst du es, wie es denn laufe mit dem Violinenunterricht. Worauf dich das Wunderkind traurig anschaut und sagt: „Ich musste aufhören. Weisst du, jetzt, wo ich in die vierte Klasse komme, muss ich so viel lernen, da habe ich einfach keine Zeit mehr für etwas anderes.“

Schon sonderbar: Jetzt, wo das Wunderkind zu einem gewöhnlichen Kind geworden ist, redet plötzlich das Kind. Und die Mutter schweigt.

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