Rechne!

Vor rund fünfundzwanzig Jahren sass ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen in einem Schulzimmer irgendwo in der Schweiz und starrte verzweifelt auf folgende Sätze: „Fritzchen und Paul sind beste Freunde. Die beiden fahren jeden Tag mit dem Fahrrad in die Schule. Fritzchen fährt mit seinem Fahrrad 5 Kilometer in der Stunde, Paul fährt mit seinem Fahrrad 10 Kilometer in der Stunde. Fritzchen wohnt 1500 Meter von der Schule entfernt. Paul wohnt 3 Kilometer von der Schule entfernt. Wer ist schneller in der Schule und wie viele Butterbrote essen die beiden Knaben unterwegs? Rechne!“

Dieses letzte Wort „Rechne!“ war es, welches das Mädchen in Verzweiflung trieb. Hätte das Mädchen erklären müssen, weshalb Fritzchen böse ist auf Paul, dann wäre das keine Sache gewesen. Ist doch klar: Wenn einer so viel schneller Rad fahren kann, dann mag man den Kerl nicht leiden. Hätte das Mädchen herausfinden müssen, weshalb die beiden dennoch beste Freunde sind, es hätte erklärt, dass Paul eben so ein netter Kerl ist, der nie angibt, auch wenn er viel schneller Rad fahren kann. Und vielleicht hätte es auch gesagt, der Paul habe eben dem Fritzchen sein allerbestes Butterbrot abgegeben und deshalb sei Fritzchen, der so gerne isst und deshalb auch langsamer fährt, ein dankbarer Freund und Abnehmer der Butterbrote. All dies und noch viel mehr hätte das Mädchen aus diesen Sätzen gelesen, aber das interessierte keinen. Alles, was die Lehrerin wissen wollte, war, wer früher in der Schule ankommt. Und genau dies konnte das Mädchen beim besten Willen nicht herausfinden, denn es verschlang zwar Lesefutter in rauhen Mengen, doch kaum wurden dem Lesefutter Zahlen beigemengt, wurde die Sache für das Mädchen unbekömmlich, weil sich Wörter und Zahlen im Kopf derart verhedderten, dass das Mädchen am Ende nicht mehr wusste, ob Fritzchen überhaupt Radfahren konnte und ob Paul nicht vielleicht per Mondrakete in die Schule geflogen war.

So war das und all das hätte eine schlimme aber verdrängte Erinnerung bleiben können, hätte das Mädchen, als es schon längst kein Mädchen mehr war, nicht den irrsinnigen Entschluss gefasst, sich von zu Hause aus weiterzubilden. Aber das Mädchen ist nun mal naiv geblieben und so zerbricht es sich heute den Kopf über der folgenden Aufgabe: „Vergleichen Sie bitte die Wirtschaftlichkeit und die Rentabilität sowie den Materialbedarf pro Stück der beiden folgenden Verfahren 1 bzw. (2): Beim Verfahren 1 (2) werden von einer relativ hoch (weniger) automatisierten Anlage aus einer Menge von 5 Tonnen Einsatzmaterial genau 1000 (900) Produkte hergestellt, wobei die Produktion je Einheit exakt 0,5 (1,5) min dauert….“

Spätestens hier hängt das Mädchen ab und liest so weiter: „Die produktive Zeit je Tag ist davon abhängig, wie viel Kaffee der Maschinenführer jeweils morgens um sechs in sich hineingeschüttet hat und davon, ob der Chef gut gelaunt ist, oder ob er mies drauf ist, weil ihm gestern seine Frau so furchtbar auf die Nerven gefallen ist und weil er eine viel zu hohe Steuerrechnung bekommen hat. Ach ja, und die Frau, die war übrigens gestern so unausstehlich, weil sie den ganzen Tag keine Zeit fand, sich die Zehennägel zu lackieren und das hätte sie ganz dringend tun müssen, weil sie sich ein Paar elegante Sandalen gekauft hat, die viel schöner sind als diejenigen der Nachbarin.  Aber die Frau hatte keine Zeit, sich die Zehennägel zu lackieren, weil ihr Chef ihr nicht erlaubte, früher nach Hause zu gehen. Der Chef ist nämlich ein unausstehlicher Tyrann und die Frau überlegt sich schon seit längerer Zeit, ob sie nicht endlich kündigen sollte. Aber damit ist ihr Mann nicht einverstanden und deshalb lag sie sich gestern Abend mit ihrem Mann in den Haaren….“

Kann mir bitte mal endlich einer erklären, weshalb ich rechnen soll, wo doch zwischen den knochentrockenen Zeilen so viele spannende Geschichten verbergen?

10 Gedanken zu “Rechne!

  1. Äusserst kreativ! Ich denke mal, ich werde die für mich unlösbare Aufgabe an die Personen weiterleiten, die fürs Budget zuständig sind, denn die müssen dann ja auch noch berechnen, wie viel Geld wir für Wickeltische, rsp, Kloschüsseln ausgeben müssen.

  2. Hallo, gerade habe ich Ihren Blog gefunden, (den ich sehr sehr nett finde) und musste über diesen Beitrag brüllend lachen. Ich könnte KEINE der gestellten Fragen beantworten 🙂
    Herzliche Grüsse

  3. Ok, praxisbezogenes Beispiel für Familienzenrum:

    Berechne anhand des angestrebten Klientels folgende elementare Gebäudevorraussetzungen:

    a) Die nötige Mindestanzahl an Wickeltischen/-plätzen, anhand der durchschnittlichen Wickelfrequenz pro Kind, Dauer des Wickelvorgangs, etc….

    Nebenrechnung: a) Berechne die notwendige Größe der Mülltonne, damit auch bei einem ManW (Massenanfall von Windeln) jederzeit die ordnungsgemäße Entsorgung möglich ist.

    b) Berechne die Platzierung und Mindestdauerleistung einer Lüftungsanlage, in Abhängigkeit der durchschnittlichen Verteilung von großem und kleinem Geschäft in der Windel, sowie des Männer/Väter-Faktors beim Wickeln.

    Aufgabe B)

    Da zwangsläufig nicht alles Wickelkinder sein werden, berechne entsprechend die Anzahl nötiger Toiletten, bzw. Toilettenschüsseln, aufgeteilt nach Männlein und Weiblein, sowie Erwachsen und in Kindergröße, dabei beachte besonders das entsprechende „Leistungsvermögen“ des Beckens und der Abflussrohre. Eine entsprechende Hilfestellung gibt es hier: http://www.haustechnikdialog.de/Forum/t/19886/Grosse-Haufen :D:D(für Verletzungen durch akuten Lachkrampf oder dessen Folgen wird keinerlei Haftung übernommen)

    Aufgabe C)

    Fragen Sie sich bitte nicht, ob ich einen Schuss habe. Ich habe lediglich einen manchmal etwas seltsamen morbiden Humor, in Verbindung mit Langeweile und Fieberschübe kommt dann folgendes raus 😀

  4. Ja, das mit dem sinnvollen Praxisbezug hat schon was. Allerdings nur, wenn man etwas produzieren will. Da mein Auftrag aber lautet, ein Familienzentrum mit Kindertagesstätte, Elternbildung, etc. auf die Beine zu stellen, verfängt das Argument mit dem Praxisbezug leider leider nicht. Da wäre es schon eher hilfreich, zu wissen, weshalb Fritzchen eine lahme Ente, Paul ein elender Angeber ist, denn mit solchen Problemen schlage ich mich als Mutter täglich herum.

    Für den kommenden Donnerstag wünsche ich alles Gute und starke Nerven. Das wird schon gut kommen. Irgendwie schafft man’s immer.

  5. Oh je, ich kann Sie sooooooooo gut verstehen. Wobei, die Produktions-/Stückzahlen, -zeiten etc. wären ja immerhin noch mit sinnvollem Praxisbezug 😉 Ändert natürlich nix an der Tatsache, das letztendlich alles vom Koffeinpegel des Maschinenführers abhängt 😀

    Ich hab nä. Do 8std technische Mathematik am Stück vor mir *bibber* Albträume hab ich deswegen bereits jetzt…

  6. Soeben habe ich „Meinen“ gebeten, mir beim Rechnen zu helfen, wie er dies bereits im Gymi gemacht hat. Deshalb schiebe ich die elende Rechnerei jetzt zur Seite und wende mich meinem angefangenen Roman zu…

  7. Ein Tag, ohne einen Blogbeitrag von dir wäre auch im Eimer, weil nämlich jeder einzelne eine Rosine ist. Halt‘ dich also bitte, bitte nicht mit Rechnen auf! 😉

  8. Nun, das ist doch eine äusserst wichtige Angelegenheit: Man stelle sich vor, man habe ein paar Kinder und eines davon erwischt ein Brötchen ohne Rosinen. Dann wäre der Tag im Eimer, nicht wahr? 🙂

  9. Ich kann das soooooo gut verstehen!!!

    Ich erinnere mich an folgende Aufgabenstellung: Wenn 50 Brötchen gebacken und 100 Rosinen untergemengt werden, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass in 1 Brötchen genau 1 Rosine enthalten ist.

    Als hätte ich keine anderen Probleme 😉

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