Das muss jetzt einfach mal raus

Der einen oder dem anderen werde ich mit diesen Zeilen auf die Nerven fallen – sofern sie überhaupt jemand liest. Eigentlich widerstrebt es mir auch, nach langen Jahren des Schweigens so viel Persönliches preiszugeben. Und mir ist auch voll und ganz bewusst, dass gesunde Menschen nicht gerne über Krankheit nachdenken, erst recht nicht über Covid. Dennoch muss ich hier einfach mal etwas loswerden:

Jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen, wo in den Medien wieder Interviews über neue Varianten gebracht werden und wo von vielen Experten beschwichtigend verbreitet wird, es bestünde überhaupt keine Gefahr, müsst ihr euch einer Sache bewusst sein: An Long Covid denkt dabei keiner, denn Long Covid ist auch für die meisten Experten unsichtbar.

Sie sehen nicht, wie wir, die wir niemals hospitalisiert waren, nach einer „milden“ Infektion nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Wie wir Nacht für Nacht ums Einschlafen ringen. Wie wir, wenn uns dann doch irgendwann der Schlaf gegönnt ist, morgens kaum mehr wachzukriegen sind. Wie wir selbst nach einer guten Nacht mit ausreichend Schlaf jeden Morgen wie erschlagen sind.

Sie beschreiben unseren Zustand als Fatigue und fügen nicht erklärend hinzu, dass dieses Gefühl von Erschlagenheit so viel mehr ist als blosse Müdigkeit. Dass jede noch so simple Tätigkeit davon durchzogen ist. Dass auch die erholsamste Erholungspause keine Erholung davon verschafft. Dass wir an den meisten Tagen selbst die schönen Dinge wie einen Kaffeeklatsch, einen Filmabend oder einen kurzen Spaziergang nicht schaffen, weil sie zu viel Kraft kosten.

Sie sagen, wir litten unter „Brain Fog“ und machen sich keine Vorstellung davon, wie entwürdigend es sich anfühlt, mitten im Satz banalste Worte nicht über die Lippen zu bringen. Wie schmerzhaft es ist, wenn sich auf dem Nachttisch all die guten Bücher stapeln, von denen man nicht mehr als ein, zwei Seiten am Stück lesen kann. Wie eingesperrt man sich fühlt, wenn man für jede kleinste Besorgung auf Chauffeurdienste angewiesen ist, weil die mangelnde Konzentration weder Velo- noch Autofahren zulässt. Kleine Besorgungen übrigens, die nur dann möglich sind, wenn vorher und nachher genügend Erholungszeit drinliegt, weil der Kopf mit den vielen Sinneseindrücken auf dem Weg und im Laden nicht klarkommt.

Diese Experten widersprechen nicht, wenn der Interviewer zu ihnen sagt, die schlimmen Long Covid-Fälle hätten sich doch ereignet, als noch keine Impfung zur Verfügung gestanden hätte. Sie könnten einwenden, viele von uns seien voll geimpft nach „mildem“ Omicron erkrankt, aber das wissen sie vermutlich gar nicht, denn die eine oder andere Studie kommt ja zum Schluss, die Impfung senke das Long-Covid-Risiko ein wenig. Und darum tun sie weiterhin so, als bestünde nur für ein paar wenige Vorerkrankte eine Gefahr.

Sie sagen, irgendwann würden wir uns wieder erholen. Ganz falsch ist das nicht; manchen von uns geht es ja tatsächlich irgendwann etwas besser. Viele aber kämpfen auch noch ein, zwei, drei Jahre nach der Infektion mit den gleichen Symptomen. Und weil wir halt leider keine schönen Geschichten von einer ganz plötzlichen Genesung über Nacht zu erzählen haben, gehen wir irgendwann vergessen.

Sie sagen, im Gegensatz zum Pandemiebeginn gebe es heute doch so viele Anlaufstellen, wo wir Hilfe bekämen. Dass wir dort nicht viel mehr zu hören bekommen als „Irgendwann wird‘s dann schon wieder“, lässt sie offenbar kalt. Dass man uns mit einer Verordnung für Physio- und Ergotherapie, aber ohne Medikamente, ohne Therapieempfehlungen und ohne Hoffnung wieder nach Hause schickt, scheint sie nicht zu interessieren. Vielleicht trösten sie sich aber auch mit dem Wissen, dass ja zumindest einige wenige von uns das Glück haben, bei einer engagierten Ärztin untergekommen zu sein, die bereit ist, alles zu probieren, was der bisherige Wissensstand zu probieren erlaubt.

Wobei sie unsere Bereitschaft, alles auszuprobieren, was nur irgendwie Linderung verspricht, ziemlich verurteilenswert finden. Wer bereit ist, Unsummen zusammenzukratzen für eine Therapie, deren Wirksamkeit bloss anekdotisch ist, kann doch nicht recht bei Trost sein. „Wie können die nur?“, fragen sie entrüstet. „Die Wissenschaft ist doch dran, Lösungen zu finden. Warum sind die bloss so ungeduldig?“

Ja, warum nur? Was stört uns denn so sehr daran, nach jedem Termin ausser Hause zwei, drei, vier Tage Erholung in reizarmer Umgebung zu brauchen, damit wir wieder so halbwegs funktionieren? Auf dem Sofa ist es doch so bequem!

Was ist denn so schlimm daran, nicht mehr in die Ferien fahren zu können? Zu Hause ist es doch auch schön!

Warum beklagen wir wenigen Glücklichen, die wir dank Home Office noch arbeiten können, uns auch, der Job fresse die ganze spärliche Energie auf? Arbeiten ist doch eine erfüllende Sache!

Was vergiessen wir auch bittere Tränen, wenn wir auf Social Media sehen, wie unsere Freundinnen, Verwandten und Arbeitskolleginnen das Leben geniessen? Dort, wo sie sich aufhalten, müssten wir ja doch nur aufpassen, uns das Virus nicht wieder einzufangen!

Was jammern wir auch über die Krankenkasse, die uns fast nichts von alldem bezahlt, was wir einwerfen, um uns irgendwie Linderung zu verschaffen? Wir könnten ja auch einfach dankbar dafür sein, wie breit das Sortiment an Mittelchen, die wir ausprobieren können, inzwischen ist.

Und überhaupt, unser ewiges Gejammer ums Geld, was soll das überhaupt? Seien wir doch froh um die teuren Stützstrümpfe, die für einen besseren Blutfluss sorgen; um die Putzfrau, die bereitwillig jede Woche den Dreck wegputzt, den wir nicht mehr wegputzen können; um die Taxis, die einen an jeden beliebigen Ort karren, wenn laufen nicht mehr geht. Solche Mehrausgaben trägt doch jedes Familienbudget mit Freuden, wenn‘s der Gesundheit dient!

Warum um alles in der Welt weigern wir uns so standhaft, uns von den Gesunden Ratschläge erteilen zu lassen? Die Homöopathin, die dem Nachbarn der Cousine des ehemaligen Arbeitskollegen bei seinem Beinbruch so gut geholfen hat, kann doch bestimmt auch etwas gegen Long Covid ausrichten! Das wird ja wohl kaum so schwer sein …

Was beklagen wir uns auch, die Krankheit vermiese uns die besten Jahre unseres Lebens? Immerhin leben wir noch!

Man mag sich fragen, warum ich das alles schreibe. Will ich etwa um Mitleid heischen? Nein, will ich nicht, auch wenn ich offen gestanden in den letzten 518 Tagen mehr als einmal ins Selbstmitleid abgerutscht bin. Mir ist trotz allem bewusst, wie privilegiert ich neben den vielen Unglücklichen auf dieser Welt noch immer bin.

Der Grund, warum ich einen Crash riskiere, um über sehr persönliche Dinge zu schreiben, die ich eigentlich lieber für mich behalten würde, ist ein anderer: Ich möchte euch vor Augen führen, warum ihr das, was mein Leben aus der Bahn geworfen hat, um keinen Preis haben wollt.

Fatigue, Brain Fog, Belastungsintoleranz – das alles mag harmlos klingen, ist aber die Hölle.

Selbst dann, wenn man, wie ich, jeden Tag noch ein paar halbwegs gute Stunden hat.

Darum meine verzweifelte Bitte, jetzt,wo die Zahlen wieder steigen: Passt auf euch auf. Und falls es euch doch erwischt, gebt es so wenig weiter wie möglich. Bitte glaubt mir, ihr wollt WIRKLICH kein Long Covid haben.

Etwas Neues

Schreiben geht ja jetzt offenbar wieder. Darum habe ich beschlossen, etwas Neues anzufangen: Texte im gleichen Stil wie bisher, jedoch mit mehr Garten und weniger Familienalltag.

Warum weniger Familienalltag? Weil die Kinder – und damit auch ich – aus dem Mamiblog-Alter herausgewachsen sind und es schlicht und ergreifend nicht mehr so viel Skurriles zu erzählen gibt. Weil ich nicht auch noch damit anfangen muss, online über unseren ziemlich ereignislosen Corona-Alltag zu jammern. Und weil es jetzt einfach Zeit ist.

Warum mehr Garten? Weil es in diesen Zeiten, in denen wir Tag für Tag so viel Elend in unsere Timelines gespült bekommen, einfach guttut, den Blick hin und wieder auf die schönen Dinge zu lenken. Weil ich denke – und das klingt jetzt furchtbar kitschig – dass jedes Blümchen, jeder Baum und jede Tomatenpflanze diese Welt zu einem besseren Ort machen. Und weil ich am liebsten über die Dinge schreibe, die mich gerade beschäftigen.

Darum wird es auf dieser Seite wohl auch in Zukunft nicht mehr allzu viel neuen Lesestoff geben. Dafür aber geht es hier weiter. Ich freue mich, wenn einige von euch auch am neuen Ort mitlesen.

So einer

Es fühlt sich an, als kämen sie allmählich wieder zurück. Die Wörter, die Ideen, der unbeschwerte Blick auf die Dinge, die Sätze, die sich unwillkürlich im Kopf formen, währenddem ich mein unspektakuläres Leben lebe.

Wie habe ich mir doch den Kopf zerbrochen, als sie auf einmal immer weniger wurden, immer unschärfer, immer leerer – und irgendwann ganz verschwanden.

Lag es an den Kindern, die grösser und damit nicht unbedingt weniger herausfordernd wurden?

Lag es an den Umbrüchen des mittleren Alters, die mich dazu zwingen, zwischen längst nicht mehr gebrauchten Legosteinen, vergilbten Kinderzeichnungen und schmutzigen Geschirrstapeln Teile meiner selbst einzusammeln und zu etwas Neuem zusammenzufügen?

Lag es an der Arbeit, die den Raum einnahm, den die Familie freigab?

Lag es an meinen Interessen, die sich vermehrt in Richtung Pflänzchen, Beetgestaltung und (noch immer nicht vorhandenem) Komposthaufen verschoben?

Oder hatte ich mir das schlicht und ergreifend alles nur eingebildet mit den Wörtern, den Ideen, dem unbeschwerten Blick auf die Dinge, den Sätzen, die sich unwillkürlich im Kopf formen, währenddem ich mein unspektakuläres Leben lebe?

Nein, an alldem lag es nicht, das stellte sich im Laufe der Jahre deutlich heraus. Aber woran dann? Wie hatte ich verlieren können, was mir so lange die Welt bedeutet hatte? Ich wusste es nicht.

Tja, und dann stand ich letzten Mittwoch am Herd, rührte gedankenverloren in den Töpfen mit Zoowärters Geburtstagsessen und verfolgte in der Live-Übertragung mit, wie am anderen Ende der Welt ein Neuanfang versucht wurde. In dem Moment, als die Frau im blauen Mantel ihre Hand zum Schwur hob, wurde die Last auf einmal leichter und die Antwort auf meine Frage sonnenklar:

Es war wieder einmal passiert. Wieder einmal hatte so einer mit seinem Gebrüll geschafft, was sonst nichts und niemand schafft: mein Dauergequassel zum Verstummen zu bringen.

Man gebe mir eine Horde kleiner, nimmermüder Kinder, Erschöpfungszustände, wild zusammengewürfelte Ehrenämter, die ich alle nicht hätte annehmen sollen, einen Haushalt, der aus den Fugen gerät, das ewige Ringen um ausgeglichene Finanzen, endlose Kämpfe mit einem ungerechten Schulsystem, einen irren Kater, der sich an meinen selbst gezogenen Akeleien vergreift (Jawohl, die Akeleien, die ich aus dem kostbaren britischen Saatgut gezogen habe und wer weiss denn schon, ob es jemals wieder möglich sein wird, kostbares britisches Saatgut in die Schweiz liefern zu lassen…), deprimierende Abstimmungssonntage, einen Herrn Gemahl, dessen Augen nach einem langen Arbeitstag schon längst auf Halbmast stehen – mir doch egal, ich quassle dennoch unbeirrt weiter.

Aber wehe, es kommt so einer daher. Dann werde ich auf einmal stumm und starr.

Dass man so einem nicht nur auf dem Pausenhof, im Klassenzimmer, in Vereinen, in Kirchen, in Sitzungszimmern und auf der Chefetage begegnet, sondern dass er auch auf der Weltbühne ungestraft sein Unwesen treiben darf, hat mich offenbar zutiefst erschüttert. Dass jede Herzlosigkeit durchkommt, wenn einer nur laut und breitbeinig genug auftritt, hat mir die Sprache verschlagen. Und dass so mancher dieses Treiben offen oder insgeheim gutgeheissen hat, liess mich mut- und hoffnungslos werden.

Ja, ich weiss, ich hätte das alles wissen müssen (lebe ja nicht erst seit gestern auf diesem geschundenen Planeten) und eigentlich könnte es mir herzlich egal sein, wer am anderen Ende der Welt rumbrüllt. Zu meinem eigenen Erstaunen muss ich nun jedoch erkennen, dass ich mit diesem Gebrüll nie klarkomme – selbst dann nicht, wenn es mit mir persönlich überhaupt nichts zu tun hat.

Ob nun alles besser wird? Ich bezweifle es. Aber immerhin beginnen die Wörter und Ideen wieder in meinem Kopf zu kreisen. Zwar noch zaghaft und auf ziemlich krummen Bahnen, aber immerhin …

Kinderkram

Wo er sich schon mal daran gewöhnt hat, sich um den alltäglichen Kleinkram zu kümmern, hat „Meiner“ diese Woche gleich weitergemacht. Am Donnerstag setzte er sich hin, um ein paar Mails zu schreiben.

Er bestellte beim Tageselternverein eine Bescheinigung für Zoowärters Mittagstischbetreuung.

Antwort: „Liebe Frau Venditti…“

Er fragte bei der Tagesschule nach, ob die Bestätigung für die Einforderung der Kinderzulagen bereits verschickt worden sei.

Antwort: „Liebe Frau Venditti…“

Er erkundigte sich, wie das nun mit Prinzchens Kochkurs sei, der im April Corona-bedingt ins Wasser gefallen war.

Antwort: „Liebe Frau Venditti…“

Er fragte beim Schlüsselservice nach, welche Angaben benötigt werden, um Hausschlüssel nachmachen zu lassen.

Antwort: „Lieber Herr Venditti…“

Kleinkram

Corona hat etwas bewirkt, was ich nach all den Jahren des Familienlebens nicht mehr für möglich gehalten hätte: Der ganze Kleinkram, der tagtäglich von diversen Schulen, Freizeiteinrichtungen, familienergänzenden Betreuungseinrichtungen und Vereinen in unser Haus gespült wird, landete öfter mal bei „Meinem“. Zum ersten Mal in unserem Familienalltag verteilte sich die berühmt-berüchtigte Mental Load mehr oder weniger gleichmässig auf unser beider Schultern.

Dies, weil ich mich in jenen ersten verrückten Wochen im März tagelang oben in meinem Büro einbunkerte, um mit meiner Arbeit irgendwie fertigzuwerden, während „Meiner“ sich unten am Esstisch parallel um seine Schulklasse und um die unterschiedlichsten Bedürfnisse unserer Kinder kümmerte. Und auf einmal war möglich, worum wir uns vorher jahrelang vergebens bemüht hatten: „Meiner“ wurde von diversen Lehrpersonen und Schulsekretärinnen zur ersten Ansprechperson im Hause Venditti befördert.

Die Infos über Stundenplanänderungen, vergessene Hausaufgaben und ins Wasser gefallene Schulschlussfeiern wurden auf einmal an ihn adressiert, die Online-Trompetenstunde des FeuerwehrRitterRömerPiraten fand auf seinem iPad statt, die Klavierlehrerin teilte ihm mit, welche Stücke das Prinzchen üben sollte. Als der Bundesrat die ersten grossen Lockerungsschritte verkündete, war der Gipfel der Gleichstellung erreicht: „Meiner“ wurde Teil einer Gemeinschaft, die Vätern hierzulande in der Regel nicht offen steht, er wurde aufgenommen in den Organisations-Chat für eine Geburtstagsparty. Und das alles ganz ohne mein Wissen; von der Fete erfuhr ich erst, als das Geschenk gekauft und die Tasche zum Übernachten gepackt war.

Ich war tief beeindruckt – und erlebte zum ersten Mal, wie schön das Leben sein kann, wenn solche Dinge einfach irgendwo im Hintergrund an einem vorbeiziehen, ohne dass man sich um sie kümmern muss. Von mir aus könnte es immer so weitergehen.

In gewisser Weise tut es das auch, denn so kurz vor Schuljahresende ändert kein Schulsekretariat die Kontaktlisten, die Infos kommen weiterhin zuverlässig bei „Meinem“ an. Und bist du erst mal in einem Organisations-Chat drin, wandert deine Nummer automatisch in den nächsten weiter, wenn in ähnlicher Zusammensetzung etwas Neues geplant wird.

„Meiner“ weiss deshalb, dass Zoowärters Klasse nun doch noch einen Schulausflug macht, er hat den Überblick, zu welchen Geburtstagspartys das Prinzchen eingeladen ist und was sich das Geburtstagskind wünscht, er hat sich notiert, wann der FeuerwehrRitterRömerPirat, der weiterhin bloss nachmittags Schule hat, ausnahmsweise schon am Vormittag antraben muss. Und weil „Meiner“ sich inzwischen daran gewöhnt hat, sich ganz alleine um solche Dinge zu kümmern, bleiben alle diese Infos auch bei ihm. So habe ich weiterhin nicht die leiseste Ahnung, was in den nächsten Tagen alles auf dem Programm steht und reibe mir verwundert die Augen, wenn plötzlich einer sagt: „Mama, ich brauche noch einen Zmittag für die Wanderung morgen. Und weisst du, ob der Schlafsack schon gewaschen ist? Den brauche ich nämlich für die Übernachtung in der Schule.“

Manchmal erfahre ich von einer Sache sogar erst, wenn es schon zu spät ist, nämlich dann, wenn „Meinem“ im Trubel etwas Wichtiges untergegangen ist und ich deswegen eine verärgerte Therapeutin oder einen enttäuschten Musiklehrer am Telefon habe. Denn „Meiner“ mag inzwischen zwar auf jeder Mailingliste als Kontakt aufgeführt sein – auf sämtlichen Notfallblättern steht weiterhin meine Nummer zuoberst. Und so landet jeder Rüffel bezüglich unseres elterlichen Versagens zuverlässig bei mir.

Mag unsere Welt auch noch so sehr ins Wanken geraten, diese eine Gewissheit bleibt: Läuft etwas schief, ist Mama schuld.

Ins Bild gesetzt

Heute mal wieder Bildersuche in einer der grossen Bilddatenbanken. Ein Foto zum Thema „Hausarbeit in der Schwangerschaft“ musste her. Während die Suche vor ein Paar Jahren vermutlich ausschliesslich abgekämpfte Hochschwangere mit Putzlappen und Eimer hergegeben hätte, zeigt sich heute ein etwas vielfältigeres Bild. Inzwischen findet man neben all den abgekämpften Hochschwangeren, die sich alleine mit der Hausarbeit abplagen, auch…

…abgekämpfte Hochschwangere, die dem Erzeuger ihres Kindes mit kritischem Blick dabei zuschauen, wie er ein Hemd bügelt oder das Wohnzimmer saugt.

…abgekämpfte Hochschwangere, die den Erzeuger ihres Kindes anhimmeln, weil er ganz ohne ihre Hilfe ein Hemd bügeln oder das Wohnzimmer saugen kann.

…nicht ganz so abgekämpfte Hochschwangere, die entspannt auf dem Sofa liegen und sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen können, weil der Erzeuger ihres Kindes sich mit dem Bügeleisen oder mit dem Staubsauger so ausgesprochen doof anstellt.

…überglückliche Erzeuger mit leicht glasigem Blick, die der überglücklichen werdenden Mutter bei der Hausarbeit unter die Arme greifen und zwar buchstäblich, indem sie sie fürsorglich von hinten umarmen, während sie eine Tasse ausspült, eine Peperoni schneidet oder einen Lappen auswringt.

…strahlend schöne, adrett gekleidete Paare, die überglücklich in ihrer perfekten Küche an ihrem perfekten Spültrog stehen und lachend ihr perfektes Geschirr abwaschen.

So wichtig, dass man werdenden Eltern ein realistisches Bild vermittelt.

Schweiz, 2020

Ich sitze im Büro bei der Arbeit, mein Handy klingelt.

„Grüezi Frau Venditti, ich bin die Therapeutin Ihres Sohnes. Hätten Sie kurz Zeit für ein Gespräch?“

„Das ist leider grad ziemlich ungünstig. Ich bin bei der Arbeit und stecke mitten in einer Sache, die vor Feierabend noch fertig werden muss. Ginge es vielleicht in zwei Stunden?“

„Ach so, Sie arbeiten? Ist ja interessant. Was denn, wenn ich fragen darf?… Als Redakteurin? Spannend!… Im Homeoffice?…Immer, nicht nur wegen Corona?…. Wirklich ausgesprochen spannend, dann haben Sie uns allen ganz viel voraus in diesen Zeiten. Aber jetzt müssen Sie ja arbeiten, ich will Sie nicht länger aufhalten.“

Zwei Stunden später:

„Also, Frau Venditti, es ist so, dass wir die Gelegenheit hätten für einen kurzen Austausch mit einer Fachperson. Ihr Sohn könnte ja in gewissen Bereichen durchaus noch Unterstützung brauchen und da wäre ein solches Gespräch bestimmt hilfreich.“

Ich stimme ihr zu, dass eine derartige Standortbestimmung nicht schaden würde und wir unterhalten uns darüber, was denn bei diesem Gespräch alles besprochen werden müsste, wer dabei sein sollte, wann es stattfinden wird (der Termin ist bereits fix, in zwei Wochen, morgens um 9, Verschieben nicht möglich, aber Frau Venditti arbeitet ja im Homeoffice und kann sich bei Bedarf beliebig verrenken, damit alles passt) und welche Formalitäten im Voraus noch zu erledigen sind.

Da alles ziemlich kurzfristig sei, müsse sie schauen, ob sie das alles noch rechtzeitig aufgleisen könne, meint die Frau, aber sie werde das schon irgendwie hinkriegen, wenn sie sich jetzt gleich an die Arbeit mache. Als alles fertig besprochen ist, sagt sie:

„Gut, dann rufe ich Sie morgen noch einmal an. So haben Sie heute Abend noch etwas Bedenkzeit und können sich überlegen, ob Sie das Gespräch möchten oder nicht.“

„Bedenkzeit? Die brauche ich eigentlich nicht, für mich ist es okay so, wie wir das besprochen haben.“

„Ach, Sie können das so spontan entscheiden? Aber müssen Sie denn nicht erst noch Ihren Mann fragen, ob er auch einverstanden ist?“

Ja, und jetzt weiss ich halt auch nicht, ob ich nicht vielleicht etwas zu weit gegangen bin. Immerhin habe ich grad ohne mit der Wimper zu zucken zugesagt, mich 45 Minuten lang mit Fachleuten über die Zukunft unseres Sohnes zu unterhalten – und das, ohne meinen Mann um Erlaubnis zu bitten.

Soweit ist es nun also schon gekommen mit mir.

Phantom-Käfer

Wie oft uns der Magen-Darm-Käfer heimgesucht hat, als unsere Kinder noch kleiner waren? Keine Ahnung. Gefühlt habe ich Jahre damit zugebracht, Erbrochenes aufzuwischen, magenschonende Kost zuzubereiten, mitten in der Nacht Betten frisch zu beziehen und mit dem armen FeuerwehrRitterRömerPiraten zur Kinderärztin zu rennen, weil der Durchfall einfach kein Ende nehmen wollte. Kaum hatte der Letzte die Sache durchgestanden, fing der Erste wieder von vorne an und waren wir endlich einmal käferfrei, sorgte irgend ein Gast für Nachschub – und schon ging es wieder los mit der Kotzerei.

Überbieten sich Eltern in einer fröhlichen Runde gegenseitig mit ekelerregenden Kleinkind-Geschichten, kann ich meistens bis ganz am Schluss mithalten, denn unsere Kinder haben in dieser Hinsicht wirklich gar nichts ausgelassen. Und natürlich spielte auch ich immer wieder gerne mit. An den einen Nachmittag, an dem mich der Käfer erwischte, bevor „Meiner“ zu Hause war, erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Winselnd wand ich mich auf dem Fussboden und zählte die Minuten bis zum Schichtwechsel, während meine Knöpfe – leider nach überstandener Seuche schon wieder quietschfidel – um mich herumwuselten. Einer der tiefsten Tiefpunkte meiner Mutterkarriere.

Solche Erfahrungen hinterlassen natürlich ihre Spuren. Wenn, so wie heute, Luise nach dem Abendessen meint, ihr wäre ein wenig übel, rebelliert umgehend mein Magen. Sagt Karlsson darauf: „Mir ist auch nicht so ganz wohl“, beginnt es in meinen Gedärmen zu rumpeln. Und wenn dann noch das Prinzchen verkündet, er wolle lieber auf seine Schokolade verzichten, er verspüre einen Brechreiz, dann beginnt in meinem Kopf alles zu drehen und ich bekomme weiche Knie.

Ob ich etwa auch krank werde?

Aber nicht doch! Nach ein, zwei Stunden geht es mir wieder blendend. Ich habe nur mal wieder diesen Phantom-Käfer eingefangen, der mir bei gewissen Stichworten im Eilzugtempo das altbekannte Programm abspielt und so dafür sorgt, dass ich auch jetzt, wo ich allmählich mit einer gewissen Sentimentalität auf die Kleinkindertage zurückblicke, nicht gänzlich vergesse, wie elend es zuweilen sein konnte.

Weg damit, so schnell wie möglich!

Als mir vor vielleicht 30 Jahren zum ersten Mal eine Kapstachelbeere – auch bekannt unter dem Namen Physalis – begegnete, war ich tief beeindruckt. So ein hübsches kleines Ding! Ob man das essen konnte?

Man konnte und so gehörte ich bald zu der Hälfte der Menschheit, die, wenn das Dessert auf den Tisch kommt, erst einmal mit Genuss das orangefarbene Kügelchen verspeist. (Ganz im Gegensatz zu der anderen Hälfte der Menschheit, die das arme Kügelchen mit angewidertem Gesichtsausdruck beiseite schiebt, um es traurig und einsam auf dem leergeputzten Dessertteller zurückzulassen.)

Auch als die Beeren allmählich alltäglich wurden, ass ich sie mit Bedacht – ja, beinahe schon mit Ehrfurcht. Immerhin kamen die Dinger von weither und man konnte nicht wissen, ob man nicht gerade einem Volksstamm, der es ohnehin nicht leicht hatte, das einzig verbliebene Grundnahrungsmittel wegfutterte.

Ich war daher sehr erleichtert, als es in den Gartencentern die ersten Setzlinge zu kaufen gab. Meiner Ehrfurcht beim Essen tat dies jedoch keinen Abbruch. Ich staunte jetzt einfach darüber, dass es Gärtner mit unglaublich grünem Daumen geben musste, die halb Westeuropa mit ihrer Ernte eindeckten. Die konnten offenbar etwas, was ich nicht konnte, denn mein eigener Ertrag reichte gerade mal dazu, mir zu beweisen, dass die Pflanze auch in unserer Klimazone durchaus das Potential zum Überleben hätte – so sie denn wollte.

Tja, und dann konnte ich mir endlich den lange gehegten Traum eines grossen Gewächshauses erfüllen. Bald nach der Errichtung zogen zwei Physalispflänzchen ins mittlere Hochbeet ein.

Es gefiel ihnen gut dort drinnen, sehr gut sogar und ich erkannte bald einmal: Wer Physalis ernten will braucht keinen grünen Daumen, wohl aber irgendwann ein zweites Gewächshaus, denn die Pflanze lässt sich durch nichts aufhalten, solange ihr kein Frost in die Quere kommt.

Heute sehe ich es als meine heilige Pflicht an, so viele Kapstachelbeeren zu futtern, wie ich nur kann. Ich liebe sie weiterhin, aber von Ehrfurcht ist da keine Spur mehr. Wenn schon, dann eher Furcht. Und ein grosses Verständnis für die Menschen, die irgendwann keinen anderen Ausweg mehr sahen, als das Zeug in alle Welt zu exportieren, um ihre eigene Haut zu retten.

Nichts wie weg mit dem Zeug, so schnell wie möglich!

Ihr alle da draussen solltet ganz dringend damit anfangen, die Beeren mit Stumpf und Stiel wegzuputzen – egal, ob ihr sie mögt oder nicht. Und bitte bei der Ausscheidung tunlichst darauf achten, kein keimfähiges Saatgut in die Natur auszubringen.

Wer nämlich beim grossen Futtern nicht mithilft, wird sich dereinst die Frage gefallen lassen müssen: „Wie konntest du nur tatenlos zuschauen, als dieses elende Gewächs die Weltherrschaft an sich riss?“

Insider bestätigt: Es sind alles nur Phasen

Landauf, landab trösten Eltern, deren Kinder mal wieder spinnen, einander mit diesem einen Satz: „Es ist bestimmt nur eine Phase.“ Egal, wie lange der Ausnahmezustand auch dauern mag, wir alle halten uns mit dem Gedanken über Wasser, dass sich eines schönen Tages alles wieder wie von Zauberhand einrenken wird und wir endlich aufatmen können. Zumindest, bis die nächste Phase kommt…

Aber stimmt das auch wirklich? Immerhin mahnen zahlreiche Pädagogen, Psychologen und Psychiater, man solle die kindliche Entwicklung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Was in jungen Jahren schief laufe, lasse sich später überhaupt nicht oder nur noch mit grösster Mühe korrigieren. Darf man da einfach alles, was uns Eltern nicht vollends in die Knie zwingt, als Phase abtun?

Man darf.

Dies zumindest schliesse ich aus dem, was mir neulich das Prinzchen – also ein Insider in Sachen Kindsein – ganz offen gestand: „Ich war ja sowas von blöd“, sagte er neulich, als ich wissen wollte, weshalb er plötzlich all seine Möbel, Schuhe und Kleider, die er in den vergangenen Monaten mit wasserfesten Stiften fantasiereich verziert hatte, sauber zu schrubben versuchte. „Warum denn?“, wollte ich wissen. „Na ja, du weisst doch, ich hatte da diese dumme Phase, in der ich alles angemalt habe. Und jetzt kriege ich das Zeug nicht mehr sauber.“

Da haben wir es also: Es sind tatsächlich nur Phasen.

Und fast noch tröstlicher ist, dass die Knöpfe, wenn sie die Sache mal hinter sich gelassen haben, selber den Kopf schütteln ob ihrer Verrücktheiten.