Heute in der Früh wurde sie wiedermal gesichtet, die barfüssige Irre. Es ist schon eine ganze Weile her, seit man sie zum letzten Mal gesehen hatte, wie sie mit einem Kind im Schlepptau durchs Dorf hastete, ungekämmt, ungeduscht und mit ungeputzten Zähnen, mit irrem Blick und laut zeternd: „Jetzt mach schon mal! Ich kann die Kleinen nicht so lange alleine lassen. Du wärst doch jetzt wirklich gross genug….“ Den Rest versteht man nicht mehr, denn sie ist schon längst um die nächste Hausecke verschwunden.
Heute war sie zumindest geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich noch schnell in die Kleider zu stürzen, bevor sie aus dem Haus ging. Auch schon wurde sie im Pyjama gesichtet. Aber eben, das ist ein paar Jahre her. Um genau zu sein vier. Es war in den ersten fünf Kindergartenwochen eines gewissen Karlsson vom Dach. Der kleine Karlsson hatte etwas Mühe damit, morgens sein Elternhaus zu verlassen und deshalb brauchte er etwas Hilfe von seiner Mama. Manchmal hatte seine Mama den Tag im Griff und dann trat sie, frisch geduscht, sauber gekleidet und gut gelaunt vor die Haustür. Im Schlepptau eine blitzsaubere Luise, im Kinderwagen einen friedlich schlafenden FeuerwehrRitterRömerPiraten, an der Hand einen traurigen, aber sauberen Karlsson.
An vielen Tagen aber hatte Karlssons Mama die Sache nicht so im Griff. Und dann schickte sie jeweils eine barfüssige Irre, die ihren Erstgeborenen begleiten sollte. Keiner weiss, weshalb eine normalerweise durchaus vernünftige Mama ihr kostbares Kind dieser Irren jeweils anvertraute. Doch während mehrerer Wochen begleitete diese unmögliche Frau den armen kleinen Karlsson fast täglich bis zur Kindergartentür und schwatzte auf ihn ein. Mit der Zeit wurde die sie zum Glück immer seltener gesichtet, dann verschwand sie ganz. Karlsson ging jetzt selbstbewusst alleine zum Kindergarten und später in die Schule. Man hätte schon fast glauben können, die Irre sei weggezogen.
Doch heute, kurz vor acht hatte sie wiedermal einen Auftritt. Karlssons letzter Schultag in der zweiten Klasse war eine wichtige Angelegenheit. Und wie so oft bei wichtigen Angelegenheiten, verhielt sich Karlsson etwas unkooperativ. Zwar wollte er auf jeden Fall Nutella, Honig, Halva-Brotaufstrich, Fruchtspiesschen für die ganze Klasse und zwei Bibliotheksbücher mitschleppen. Aber wie die ganze Ladung ins Schulhaus kommen sollte, hatten weder er noch sein Papa, der ihm alles eingepackt hatte, sich im Detail überlegt. Und ohne all die Dinge ging Karlsson nicht. Wenn er schon mal in der Schule frühstücken darf, muss das mit Stil und allem Drum und Dran vonstatten gehen. Zum Schluss, nachdem sie sich den Mund fusselig geredet hatte, blieb der Mama nichts anderes mehr übrig, als wieder mal die barfüssige Irre mit Karlsson auf den Schulweg zu schicken.
Ob das alles wahr ist, weiss allerdings niemand so genau. Die barfüssige Irre wurde nämlich heute nur ganz kurz gesichtet. Schon auf dem Heimweg von der Schule verwandelte sie sich wieder in eine ganz normale Mama, die mit zuckersüssen Anweisungen ihre anderen vier Kinder für den langen Tag bereit machte.