Marktgetümmel

„Ich war noch nie auf einem Weihnachtsmarkt“, stellte Luise neulich mit Erstaunen fest. Und wie immer, wenn ein Teenager mit Erstaunen feststellt, dass er oder sie etwas noch nie getan hat, folgte sogleich die Frage: „Warum war ich eigentlich noch nie auf einem Weihnachtsmarkt?“

Eine kleine Frage nur, in der aber unterschwellig der Vorwurf mitschwingt, den wir Eltern so furchtbar gerne hören: „Während alle anderen sich in der Adventszeit bei frostigen Temperaturen an festlich geschmückten Marktständen, Lebkuchenherzen, heissem Punsch und Drehorgel-Gedudel erfreuen durften, mussten wir uns mit euch in der warmen Stube bei Mailänderli, Kerzenschein und Adventsgeschichten langweilen. Wie konntet ihr uns ein solches Vergnügen bloss vorenthalten? Liebt ihr uns denn überhaupt?“

Ich erklärte Luise, wir liebten unsere Kinder sehr wohl und zwar so sehr, dass es für uns nicht in Frage gekommen wäre, ihnen anzutun, was so viele Eltern sich und ihren armen Kleinen zumuten: Mit Kinderwagen und Kleinkind in der glühweinseligen Menge beinahe erdrückt werden, in der Warteschlange beim Karussell die Geduld und die Nerven verlieren und sich erst dann wieder erschöpft nach Hause schleppen, wenn das Portemonnaie leer ist und jede klebrige Kinderhand ein wertloses Plastikspielzeug oder die Schnur eines überteuerten Luftballons umklammert. Ich erklärte meiner Tochter, dass fürsorgliche Eltern ihren Knöpfen so etwas nach Möglichkeit ersparen.

Luise tat so, als könnte sie meine Erklärung nachvollziehen, fragte dann aber doch mit himmelblauem Augenaufschlag: „Mama, gehen wir mal zusammen auf den Weihnachtsmarkt?“ Weil ich inzwischen keine kleinen Kinder mehr habe, die als Ausrede herhalten können, sah ich keinen triftigen Grund, ihr den Wunsch abzuschlagen und so fuhren wir heute mit dem Zug nach Basel.

Ich könnte jetzt des Langen und Breiten von dem Nachmittag erzählen, den Luise, das Prinzchen und ich hinter uns haben. Ich könnte ein Klagelied anstimmen, in dem kläglich schreiende Babies, widerlicher Weihnachtskitsch, beissend kalter Wind und ein Ellbogen, der mir mit voller Absicht und viel Wut in die Seite gerammt wurde, vorkommen. 

Ich kann mich aber auch ganz kurz und knapp fassen: Nach insgesamt etwa dreissig Minuten in Marktgetümmel meinten Luise und das Prinzchen, sie hätten genug gesehen, wir könnten jetzt nach Hause fahren.

Womit bewiesen wäre, dass Weihnachtsmärkte auch ohne Kinderwagen und Kleinkind eine Zumutung sind.

Überzuckert

„Kein Problem, das schaffen wir mit Links“, sagte ich, als die Kinderärztin meinte, wir sollten es beim Zoowärter mal ein paar Tage lang gänzlich ohne Frucht- und anderen zucker probieren. Dann gingen wir nach Hause und versuchten, das umzusetzen, was ich in der Arztpraxis so grossmäulig für kinderleicht erklärt hatte.

Das mit den Früchten war zwar niederschmetternd für den Zoowärter, der seine Äpfel, Birnen und Bananen über alles liebt, aber einfach umzusetzen. Das mit den Süssigkeiten auch, denn die kommen ja nicht täglich auf den Tisch. Zum ersten Mal leer schlucken musste er, als ich ihm erklärte, er müsse in den kommenden Tagen seine Milch ohne Kakao trinken und seine Filmjölk ohne Ahornsirup löffeln. Richtig traurig aber wurde er, als ihm bewusst wurde, dass auch Honig im Tee bis auf Weiteres Tabu ist. 

Bis zu diesem Punkt war die Angelegenheit zwar schmerzhaft, aber tatsächlich spielend leicht umsetzbar. Schwieriger wurde es, als wir uns auf die Suche machten nach dem versteckten Zucker, von dem man zwar stets redet, dessen Anwesenheit man aber gerne ignoriert. Seither kommt es zu solchen Szenen am Esstisch:

Zoowärter: „Karlsson, reichst du mir bitte den Schinken?“

Karlsson: „Moment, ich lese erst mal die Liste mit den Zutaten durch.“

Karlsson liest, während Zoowärter mit sehnsüchtigem Blick auf den Schinken starrt.

Karlsson: „Tut mir leid, da hat’s Zucker drin. Das darfst du nicht essen.“

Zoowärter versucht, nicht allzu traurig zu sein, Karlsson schimpft lautstark über den elenden Zucker, der seinem kleinen Bruder die Mahlzeit verdirbt.

Diese und ähnliche Szenen wiederholen sich mehrmals am Tag. Bei den Essiggurken. Beim Frischkäse. Bei den Maiskölbchen. Bei den Corn Flakes – und zwar die angeblich gesunde Sorte, nicht das klebrige Zeug, bei dem man den Kindern ebensogut Würfelzucker servieren könnte. Zucker, wohin man auch schaut und das in einem Haushalt, in dem mehrheitlich Hausgemachtes auf den Tisch kommt. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn wir öfter auf Fertigprodukte zurückgreifen würden. 

Ich weiss gar nicht so recht, welchen Ausgang ich mir für diesen zuckerfrei-Versuch wünschen soll. Einerseits wäre ich natürlich froh, der Schuldige für Zoowärters Bauchschmerzen wäre endlich gefunden. Andererseits graut mir vor der Vorstellung, auf Dauer einen traurigen Feinschmecker am Esstisch zu haben.

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