Die nächste Generation übernimmt

Es gab mal eine Zeit in meinem Leben, da hatte ich so etwas wie Autorität. Da konnte ich sagen: „Glaubt bloss nicht, ich würde heute die Möbel aufbauen, die wir gestern gekauft haben. Es ist Sonntag, da gebe ich mich ganz bestimmt nicht mit Hammer und Schraubenzieher ab.“ Die Kinder gehorchten, die Schachteln aus dem schwedischen Möbelhaus blieben im Auto und wir alle hatten unsere Ruhe.

Dass diese Zeiten vorbei sind, zeichnete sich schon ab, als Luise damit begann, ihre Möbel selber aufzubauen. Allerdings liess ich mich dadurch nicht verunsichern, denn unsere zupackende Tochter bekommt ja nicht alle Tage ein neues Bett oder einen Schrank. 

Auch als gestern der FeuerwehrRitterRömerPirat am späten Abend noch die Schachteln, die wir am Nachmittag gekauft hatten, aus dem Auto holte und seine neuen Regale aufbaute, beunruhigte mich dies noch nicht sonderlich. Immerhin ist der Junge in der Pubertät, da muss man sich doch einfach über mütterliche Anweisungen hinwegsetzen.

Seit heute Nachmittag aber weiss ich, dass ich in diesem Haus nicht mehr allzu viel zu melden habe. Trotz meines Verbots schleppte das Prinzchen sein neues Bücherregal Einzelstück für Einzelstück in die Wohnung und wenig später hatte er nicht nur ohne elterliche Hilfe sein Regal aufgebaut, sondern auch ein paar alte Möbel ins Treppenhaus verfrachtet und sein Zimmer komplett auf den Kopf gestellt. Das alles an einem Sonntag, an dem ich eigentlich der ganzen Familie Ruhe und Beschaulichkeit verordnet hatte.

Man sieht also, dass meine Autorität mehr als bloss angeschlagen ist. 

Was aber auch seine Vorteile hat. 

Immerhin kann ich mich in Zukunft gemütlich zurücklehnen, wenn es mal wieder ein Möbel aufzubauen gibt. Jetzt, wo sogar der Jüngste bewiesen hat, wie gut das ohne mich geht, sehe ich keinen Grund, warum ich mich weiter mit komplizierten Anleitungen und fehlenden Schrauben herumschlagen sollte. 

Dahlienliebe

Vor ein paar Tagen ging ich mit einer Bekannten durch unseren Garten. Als wir zu den Dahlien kamen, bemerkte eine von uns beiden: „Was habe ich Dahlien doch früher immer gehasst!“ „Ich auch“, meinte die andere, „richtige Altweiberblumen, fand ich.“ „Genau, so sah ich das auch. Ich dachte immer, die seien so furchtbar verstaubt und altmodisch.“

Im Weitergehen erzählten wir einander, wie sich unsere Abneigung im Laufe der Jahre allmählich in eine leidenschaftliche Zuneigung verwandelt hatte und bemerkten dabei nicht, was wir mit unserem Reden bestätigten: Frau muss wohl tatsächlich ein gewisses Alter erreichen, ehe sie Dahlien lieben lernen kann. 

Dahlie

Grenzen der Toleranz

Weil ich ein toleranter Mensch bin,…

… oder vielleicht einfach nur ausgesprochen harmoniebedürftig,…

… oder möglicherweise auch schlicht ein Feigling,…

halte ich mich in der Regel zurück, wenn einer meiner Zeitgenossen gewaltig nervt. 

So habe ich zum Beispiel heute den Kerl in Frieden gelassen, der im voll besetzten Bus seinem geliebten Rucksack einen bequemen Sitzplatz anbot. Ich verkniff mir ein Augenrollen, als er nicht nur seine Freunde, sondern den halben Bus wissen liess, dass er neulich vollkommen verladen war, als er am frühen Morgen seinen Dienst auf der Baustelle antrat. Auch als er uns alle bald darauf an einem Abenteuer teilhaben liess, in das ganz viele Bierdosen, ein Bordellbesitzer und ein Notarzt involviert waren, behielt ich meinen Unmut über sein dummes Geschwätz für mich. 

Am Ende eines langen Arbeitstages, an dem ich vor lauter Gedankefutter kaum mehr wusste, wo mir der Kopf stand, war einer wie er zwar nur äusserst schwer zu ertragen, aber vermutlich hatte er einen ebenso anstrengenden Tag hinter sich und da soll man mal nicht so streng sein. 

Dann aber überspannte er den Bogen. Nachdem er eine Weile lang betrübt und zu unser aller Freude schweigend aus dem Fenster gestarrt hatte, erhob er seine unüberhörbare Stimme leider erneut: „Scheissregen! Ich glaub’s nicht, Alter! Immer dieser Scheissregen!“

Glaubt mir, der Kerl kann wirklich froh und dankbar sein, dass der Bus ausgerechnet in diesem Moment an meiner Station hielt. Hätte ich noch eine Minute länger mit ihm im gleichen Fahrzeug unterwegs sein müssen, hätte er mich von meiner unfreundlichen Seite kennen gelernt. 

Auch meine Toleranz kennt ihre Grenzen und die ist definitiv überschritten, wenn einer es wagt, nach diesem staubtrockenen Sommer in meiner Gegenwart über den Regen herzuziehen.

tierli

 

 

Frohe Weihnachten allerseits!

Als unsere Kinder noch kleiner waren, wunderte ich mich stets darüber, dass spätestens ab Mitte August Andrew Bonds „Zimetschtern hani gern“ aus dem Kinderzimmer schallte. Wie, um Himmels willen, kamen die bei 30 Grad Hitze auf die Idee, die CD mit den Weihnachtsliedern aus dem Schrank zu holen? Und das noch bevor das viel zu frühe vorweihnachtliche Theater in den Läden losging?

Nun, ich weiss bis heute nicht, was unsere Knöpfe dazu getrieben hat, mitten im Hochsommer Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Aber ich ahne zumindest, wer die Geschwister dazu angestiftet hat: Es muss Karlsson gewesen sein. Den packt nämlich heute noch bei sommerlichen Temperaturen die Sehnsucht nach dem Fest der Liebe. Gut, er kramt nicht mehr Andrew Bond aus dem Schrank. Aber er setzt sich ans Klavier und klimpert sein weihnachtliches Repertoire: O du fröhliche, I Heard The Bells On Christmas Day, Stille Nacht, We Wish You A Merry Christmas, Leise rieselt der Schnee – und das alles natürlich bei offenem Fenster, auf dass auch die Nachbarschaft bald in Feststimmung komme.

Warum er das tut? Angeblich, weil er die Meinung vertritt, man könne Weihnachtslieder spielen, wann immer man die Lust dazu verspüre – ob es nun August, September oder Dezember sei. Ich vermute aber, dass dahinter noch ein anderer Grund steckt: Unser Ältester geht mit dem Klimawandel und übt schon mal, wie es sich anfühlt, schweissüberströmt bitterkalte Winternächte zu besingen.

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Verschlossen

Grossfamilienleben – schön, abwechslungsreich und manchmal auch ganz schön anstrengend, wenn man sich im Gewirr der vielen Stimmen Gehör verschaffen will. Dass es oft mehr als ein sanftes Säuseln braucht, um sich gegen die anderen durchzusetzen, versteht sich von selbst. Eines der wirkungsvollsten Mittel im Kampf um die allgemeine Aufmerksamkeit: Die verschlossene Badezimmertür. 

In ihrer mildesten Form kommt sie zur Anwendung, wenn einer findet, er habe jetzt genug Küchendienst geleistet. Flugs wird eine volle Blase vorgetäuscht und schon hat man sich eine Auszeit von der Schinderei verschafft. Natürlich gibt man vor, sich zu beeilen, kommt aber erst wieder raus, wenn das Ende der Arbeit absehbar ist und man höchstens noch einen Teller wegräumen oder einen Lappen in den Wäschekorb werfen muss. Klar, die Vorwürfe, die man zu hören bekommt, wenn man endlich das Bad verlässt, sind nicht besonders nett, aber immerhin hat man der ganzen Familie bewiesen, dass man sich durchaus zur Wehr setzen kann, wenn die Eltern mal wieder zu viel Einsatz verlangen. 

Die verschlossene Badezimmertür ist auch ein wirkungsvolles Mittel, wenn man der älteren Schwester, die in Diskussionen stets die Oberhand behält, vor Augen führen will, dass man sich trotz ihrer Wortgewandtheit nicht klein kriegen lässt. Kaum hat sie ihren Putzdienst angetreten, verschwindet man im Bad, um ausgiebig zu duschen. So ausgiebig, dass die Tür  noch immer verschlossen ist, wenn sie ganz dringend rein müsste, um den Putzkessel zu holen. Als wäre man ganz plötzlich von einem Hygienefimmel gepackt worden, zieht man das Haarewaschen, das Eincremen und das Anziehen so sehr in die Länge, bis die Schwester wutschnaubend von dannen stapft. Solange der jüngere Bruder kein Einsehen kennt, ist an ein Ende der Putzarbeiten nicht zu denken, also ist sie gezwungen, eine Pause einzulegen. Doch kaum hat sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht, öffnet sich die Badezimmertür wie von Zauberhand. „Da hast du deinen doofen Putzkessel. Musst du mich immer so hetzen, wenn ich am Duschen bin?“, raunzt der nunmehr blitzsaubere Bruder und zieht sich hochzufrieden in sein Zimmer zurück. 

Die fieseste Methode aber ist es, im Bad zu verschwinden, wenn einer frühmorgens ganz dringend den Zug erwischen müsste, aber die Zähne noch nicht geputzt hat. Welch ein erhebendes Gefühl, endlos lange auf dem WC zu sitzen und zuzuhören, wie Eltern und Geschwister panisch gegen die Tür poltern und brüllen, man solle gefälligst aufschliessen, der Bruder verpasse sonst seinen Zug! So viel Macht hat man selten über seine Liebsten. Und so sehr man seine Liebsten auch lieben mag – an manchen Tagen muss man ihnen doch einfach zeigen, wer hier der Chef ist.

Wer nun denkt, das Problem mit der verschlossenen Badezimmertür liesse sich ganz einfach umgehen, indem man im Haus mehrere Bäder einbaut, der irrt leider. In unserem Haus gibt es drei Bäder, aber nur eine der drei Türen hat die Macht, den Familienfrieden ernsthaft zu beeinträchtigen, denn das Bad ist so günstig gelegen, dass immer einer in der Nähe ist, der das Drama mitbekommt. 

Keine andere Tür in unserem Haus ist so oft verschlossen wie diese. 

hus

Ego-Ferien

Es geht nichts über Familienzeit, sagt man. Kinder sollen spannende Abenteuer erleben, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern geniessen, etwas von der Welt sehen, Mama und Papa mal von ihrer stressfreien Seite kennenlernen – und in der Schule nach den Ferien etwas zu erzählen haben. Darum gehört die freie Zeit der Eltern fast gänzlich den Kindern. 

Mir ausnahmsweise mal alles egal, habe ich mir gesagt. Nach fast 18 Jahren Familienleben habe ich nur eines im Sinn: Die freien Stunden, wenn die Kinder aus dem Haus sind, mal ganz nach meinem Gusto gestalten. So tun, als hätte ich keinerlei Verpflichtungen. Mich morgens, wenn die Kinder aus dem Haus sind, im Pyjama auf dem Sofa fläzen. In die Stadt gehen, wenn mir gerade danach ist, oder vielleicht auch in den Wald. Im Café sitzen und lesen. Vielleicht auch in der Erde buddeln, in voller Lautstärke Bach hören, Croissants backen, ein wenig schreiben, nette Menschen treffen, Tomaten einkochen – aber nur, wenn mir gerade der Sinn danach steht. Ansonsten lasse ich es bleiben, denn für einmal pfeife ich auf sämtliche Verpflichtungen. 

Und darum habe ich stinkfrech eine meiner fünf kostbaren Ferienwochen erst jetzt bezogen, wo weit und breit kein Mensch mehr Schulferien hat. 

chränzli

La Burocrazia zeigt sich von ihrer netten Seite

La Burocrazia Italiana kann ganz schön nerven. Sie kann kleinlich sein, herablassend, unpünktlich, unnötig kompliziert, träge, wichtigtuerisch und absolut unverständlich für Menschen, die in der Schweiz gross geworden sind. Zu jedem Besuch auf dem Konsulat gehört auch der Anblick verzweifelter Secondas und Secondos, die es nicht fassen können, dass man ihnen so etwas zumutet.

Wie wir heute erfahren haben, kann sie aber auch ganz anders.

Sie kann einen nach zehn Minuten Wartezeit ausgesprochen höflich ins Zimmer bitten, wo ein perfekt vorbereiteter Staatsdiener darauf wartet, der Grossfamilie Venditti – mit Ausnahme der Mutter, die nur dabei sein muss, um zu unterschreiben – italienische Pässe auszustellen. Nachdem der freundliche Herr sich vergewissert hat, dass sowohl „Meiner“ als auch ich des Italienischen mächtig sind, wechselt er zu einem makellosen Deutsch und von da an ist La Burocrazia pure Nebensache. Natürlich muss hin und wieder eine Unterschrift gesetzt oder ein Fingerabdruck gemacht werden, aber viel mehr ist dem Herrn an gepflegter Konversation gelegen. Wittgenstein, Brecht, Marx, Günther Anders, Shakespeare, zwischendurch auch mal ein Diplomatenwitz über das verschlafene Bern oder eine Bemerkung über das AKW in unserer Nachbarschaft – das sind die Dinge, über die er mit uns reden möchte und nicht die Lappalie, dass „Meiners“ Heimatgemeinde noch nicht alle unsere Kinder im Register vermerkt hat. Dass er unseretwegen eine halbe Stunde über Dienstschluss hinaus arbeiten muss, ist ihm vollkommen egal, dass unsere Kinder nur ein paar Worte italienisch sprechen, ist kein Thema. Nach neunzig Minuten verlassen wir das Konsulat mit sechs nagelneuen Pässen.

So reibungslos ist das alles gelaufen, dass ich mir ernsthaft überlege, ob ich die Einladung des netten Herrn annehmen und die italienische Staatsbürgerschaft beantragen soll. Jetzt, wo alle anderen auch auf dem Papier halbe Italiener sind, fühle ich mich ein wenig einsam in der Familie.

Aber wer sagt mir denn, dass La Burocrazia auch so nett und unkompliziert ist, wenn ich als Bittstellerin auftrete? Dass sie auch ganz anders kann, habe ich ja schon zur Genüge miterlebt…

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Freitagabend

Was man mit so einem Freitagabend doch alles anstellen könnte…

Man könnte zum Beispiel auf dem Balkon sitzen, die angenehme Kühle nach dem Gewitter geniessen, die Nachbarn, die im Garten sitzen, belauschen und den Mond bestaunen.

Vielleicht möchte man die Arbeitswoche aber auch mit einem kühlenden Bad im Fluss beschliessen. 

Oder gemütlich mit den Kindern am Tisch sitzen, etwas Gutes essen und über dies und jenes plaudern.

Auch das Open-Air-Kino wäre eine Option.

Oder das Streetfood Festival.

Oder man könnte ganz spontan ein paar nette Menschen einladen.

Das alles wäre schön.

Am allerschönsten aber ist es doch immer, wenn man am späten Freitagabend noch mit einem wutschnaubenden Kind und einem moralpredigenden Ehemann auf dem Fussboden sitzen darf, um Legosteine, Dreckwäsche, Hörspielfiguren, unerlaubt ins Zimmer geschmuggeltes Geschirr, zerknitterte Hausaufgabenblätter und feuchte Badehosen zu sortieren, damit im Kinderzimmer endlich die Ordnung herrscht, die dort schon am letzten Freitagabend hätte herrschen müssen.  

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Frühkindliche Geschmacksverirrung

„Liebe Eltern, tun Sie Ihren Kids einen Gefallen und ziehen Sie ihnen zum ersten Schultag etwas Cooles an. Ich für meinen Teil hoffe, dass alle mein Outfit von damals vergessen haben. Ganz fest.“ Das schrieb die Redaktionsleiterin im Vorwort der Wochenzeitung, die der Grossverteiler meines Vertrauens jeweils am Montag in unseren Briefkasten flattern lässt. Auf dem Bild zum Vorwort ist eine Erstklässlerin zu sehen, die ein Kleidchen trägt, das man vor schätzungsweise 25 Jahren für ziemlich hübsch gehalten haben muss. Schuld an dieser Geschmacksverirrung waren natürlich die Eltern…

Wie gut ich doch diesen Vorwurf kenne. Ich bekomme ihn jedesmal zu hören, wenn Luise Bilder von ihrem ersten Schultag anschaut. Oder überhaupt Bilder aus ihrer Kindheit.

„Wie konntest du mich bloss so hässlich anziehen?“, fragt sie.

„Kind, du glaubst doch nicht im Ernst, du hättest dir von mir sagen lassen, was du anziehen sollst?“, frage ich jeweils zurück.

„Warum hast du mir denn nicht verboten, so aus dem Haus zu gehen?“, will meine Tochter wissen.

„Weil du dir von mir ganz bestimmt nie hättest vorschreiben lassen, was du anziehen sollst. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie stur du diesbezüglich warst“, sage ich und erzähle ihr von dem kleinen Mädchen, das bereits im zarten Altern von zwei Jahren im Kleiderladen in einen Kaufrausch geraten wäre, wenn ihre Mama – die sich lieber in Bücherläden herumtreibt – sie nicht zurückgehalten hätte. Ein Mädchen, das zielstrebig auf die Kleider zusteuerte, die es haben wollte, mochte die Mama noch so sehr für etwas Hübscheres plädieren.

Luise gibt sich nicht geschlagen. „Du hättest mir eben sagen müssen, dass das Zeug potthässlich ist“, beharrt sie.

„Glaub mir, das habe ich…“ sage ich seufzend und verdrehe die Augen, weil ich an den schrecklichen Cinderella-Pullover denke, den Luise trug, bis er voller Löcher war.

„Oder du hättest mir einfach etwas Schöneres in den Schrank hängen müssen. Wenn ich mal Kinder habe, kaufe ich denen nur Sachen, die voll stylish sind“, fährt Luise fort.

„Auch das habe ich getan und zwar genau so lange, bis ich erkannte, dass das nur rausgeschmissenes Geld ist, weil du die Sachen nicht angerührt hast“, verteidige ich mich, aber natürlich lässt meine Tochter nicht locker: „Und dann habt ihr mir dieses schreckliche Dirndl gekauft und mich dazu gezwungen, es zu Grossvaters Siebzigstem anzuziehen.“

Ich mache meine Tochter darauf aufmerksam, dass wir „dieses schreckliche Dirndl“ nur gekauft haben, weil sie nach den Ferien in Österreich wochenlang von nichts anderem mehr reden mochte und dass sie es zu Grossvaters Geburtstag anziehen musste, weil das sündhaft teure Ding sonst nie das Tageslicht gesehen hätte. Ihr Interesse daran war nämlich verflogen, sobald es im Kleiderschrank hing. 

Aber natürlich rede ich mir den Mund fusselig, denn Luise braucht nun mal eine Schuldige, die sie für die in ihren Augen so missratenen Kinderfotos verantwortlich machen kann.

Ich könnte wetten, dass hinter fast jedem „Meine Eltern haben mich so schrecklich angezogen“-Gejammer ganz ähnliche Geschichten stecken…

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Grosse Zukunftsträume

Gesangsunterricht wäre doch etwas. Die Stimme schulen und nicht immer nur zu Hause ein paar Melodien trällern.

Nein, sicher nicht Gesangsunterricht! Ein Studium in Pharmazie wäre viel passender. Ganz genau verstehen, wie Medikamente wirken, das wäre doch unglaublich spannend.

Quatsch! Unterrichten an der Sonderschule wäre genau das Richtige. Mit einfachen Worten schwierige Zusammenhänge erklären, so dass sie auch jemand versteht, der anders lernt – das wäre einfach perfekt. 

Mir scheint, unseren Kindern sei aufgefallen, dass mir im letzten Jahr die Wörter und Sätze immer mehr abhanden gekommen sind. Darum fangen sie an, Zukunftsträume für mich zu schmieden. „Mama, das wäre doch etwas für dich“, sagen sie und sind ganz erstaunt, wenn ich abwinke. 

Mich dünkt nämlich, die Zukunftsträume, die sie da schildern, hätten mehr mit ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten zu tun als mit meinen. Doch weil sie es noch nicht wagen, für sich selber zu träumen, muss eben die schreibblockierte Mutter dafür herhalten. Die weiss ja grad nicht so recht, was sie mit ihrer Zeit anfangen soll. 

Nun, ich glaube, ich habe verstanden, was zu tun ist: Mich in die Welt der Wörter und Sätze zurück kämpfen, damit sie nicht mehr das Gefühl haben, ich sei dringend auf Beschäftigung angewiesen. Und meine Kinder dazu ermutigen, jetzt schon viel konsequenter die Ziele anzustreben, die sie insgeheim haben. Damit sie später, wenn sie mal Eltern sind, mit voller Überzeugung sagen können: „Kind, ich habe meinen Traumberuf bereits gefunden.“

Und nicht wie ich, die ich sage: „Kind, ich habe meinen Traumberuf zwar gefunden und ich arbeite ja auch bereits auf diesem Gebiet, aber für mein eigenes kreatives Schaffen sind mir gerade die Wörter und Sätze abhanden gekommen, darum sitze ich nach Feierabend auf dem Sofa und lese grottenschlechte Bücher, die einem in der Buchhandlung aus unerfindlichen Gründen als lesenswert angepriesen werden.“ 

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