Wellness am Mittag

Seit heute sitzen bei uns mittags nur noch zwei Kinder am Tisch. Zweikindeltern mögen mir bitte verzeihen, wenn ich sage, dass sich das irgendwie wie Wellness anfühlt. Wellness in Form von Blitzbesuchen in der Küche – unglaublich, wie schnell das Wasser in der kleinen Pfanne siedet, wie rasant so ein halber Salatkopf gerüstet ist, wie wenig Geschirr man braucht -, ausgewogener Konversation und Mini-Aufräumaktionen nach dem Essen.

Durchaus denkbar, dass wir bei so viel Entspannung auf dumme Gedanken kommen. Würde mich nicht wundern, wenn demnächst an einem programmbeladenen Tag einer wissen möchte: „Sagt mal, kennt uns eigentlich der Pizzabote noch? Bei so kleinen Bestellmengen würde ein Wiedersehen mit ihm finanziell doch fast gar nicht ins Gewicht fallen…“ (Was natürlich die Frage nach sich zöge, wie bis zur Rückkehr der Restfamilie die Spuren der Junk Food-Orgie vollumfänglich zu beseitigen wären, aber in unserem tiefenentspannten Zustand würde uns bestimmt eine Lösung einfallen.)

Ja, man reibt sich beinahe ungläubig die Augen. Eben noch steckten wir in der „Wie überlebe ich bloss die Mittagspause mit dieser Horde?“-Phase. Und jetzt nähern wir uns schon der „Wollen wir uns vielleicht nach dem Mittagsschläfchen noch ein Käffchen gönnen? Es ist so schön ruhig“-Phase.

So ähnlich also wie der Wechsel von der glühend heissen Sauna ins eiskalte Wasserbecken.

Hab‘ ja gesagt, es fühlt sich fast wie Wellness an.

CE89C27D-F18B-4F3B-A951-362D3C96DFE6

Warum wir tun, was wir nie hätten tun wollen

Bevor ich loslege eine kurze Vorbemerkung: „Meiner“ und ich gehören nicht zu den Eltern, die der Schule gegenüber von Grund auf negativ eingestellt sind. Wie auch? Wo doch „Meiner“ seine Brötchen selber als Lehrer verdient und wir daher nur zu gut wissen, wie anspruchsvoll dieser Job ist. Wir gehören auch nicht zu den Eltern, die behaupten, die ganze Institution sei verkommen, bloss weil wir selber ein paar ausgesprochen negative und schmerzhafte Erfahrungen machen mussten. Wie auch? Wo wir doch immer wieder das Privileg haben, engagierten und verständnisvollen Lehrpersonen zu begegnen, die einen unglaublich positiven Einfluss auf ihre Schülerinnen und Schüler haben. Ja, wir vertreten gar die heutzutage ganz und gar nicht mehr zeitgemässe Meinung, Lehrer dürften auch mal Fehler machen. Es soll daher bitte niemand auf die Idee kommen, zwischen diesen Zeilen etwas zu lesen, was da gar nicht steht. Dieser Post ist kein Rundumschlag gegen die Institution Schule. Er soll lediglich aufzeigen, warum Eltern zuweilen Dinge tun müssen, die sie auf diese Weise eigentlich gar nie hätten tun wollen.

Zum Beispiel, ein Kind mitten im Schuljahr von der Schule, von der man bloss ein paar Schritte entfernt wohnt, abzumelden und es an eine Schule zu schicken, die 15 Kilometer entfernt liegt. 

Warum man so etwas tut?

Nun, in erster Linie, weil fünf Kinder aus ein und derselben Familie grundverschieden sein können. Während Karlsson, Luise und das Prinzchen sich an der örtlichen Primarschule trotz einiger Widrigkeiten recht gut zurecht fanden und finden, mach(t)en der FeuerwehrRitterRömerPirat und der Zoowärter am gleichen Ort die Hölle durch. Klar, perfekt war es an dieser Schule nie, das können auch andere Eltern bestätigen, aber wer nicht durchs Raster fällt, macht seinen Weg ohne namhafte Probleme. Anders ist es, wenn ein Kind die Erwartungen nicht ganz erfüllt. Dann bekommt es sehr schnell einen Stempel aufgedrückt und alles wird sehr schwierig. So schwierig, dass du irgendwann keinen anderen Weg mehr siehst, als den langen, beschwerlichen Weg der psychologischen Abklärungen zu gehen. Und dies, obschon du zu den Menschen gehörst, die ein Kind so nehmen wollen, wie es ist, mit all seinen Stärken und Schwächen.

Tja, und schon hast du zum ersten Mal getan, was du nie hättest tun wollen. Aber das ist eigentlich gar nicht so schlecht, denn im besten Fall hast du am Ende des langen, beschwerlichen Weges eine Diagnose, dein Kind bekommt endlich die Hilfe, die es schon längst gebraucht hätte und du darfst dabei zusehen, wie das zarte Pflänzchen, das so lange seinen Kopf hängen liess, wieder aufblüht. So war das beim FeuerwehrRitterRömerPiraten und es ist eine wahre Freude, zu sehen, wie er mit seinem ganzen Wesen immer deutlicher zum Vorschein kommt. 

Doch nicht immer steht am Ende einer Abklärung eine Diagnose. Manchmal ist da nur eine Erklärung, warum es dem Kind so geht, wie es ihm eben geht. Eine Erklärung, die für die Eltern vollkommen einleuchtend ist und die dem Kind wieder neuen Auftrieb gibt – die aber nur weiter hilft, wenn die Lehrpersonen erkennen, dass auch ein Kind, das „nichts hat“, manchmal viel Hilfe und Verständnis braucht, um wieder auf die Füsse zu kommen. Wenn es nicht bekommt, was es braucht, suchst du halt plötzlich verzweifelt nach alternativen Schulangeboten, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, wo das Kind nächsten Sommer, wenn ohnehin ein Schulwechsel auf dem Programm steht, wieder neue Kräfte sammeln kann. 

Und wieder hast du etwas getan, was du eigentlich nie hättest tun wollen, denn gewöhnlich vertrittst du ja die Überzeugung, Hindernisse seien zum Überwinden da. Doch auch das ist eigentlich gar nicht so schlecht, denn du vertrittst ja auf der anderen Seite auch die Überzeugung, dass es für einzigartige Menschen keine Standardlösungen geben kann. Warum also nicht nach Alternativen suchen, wenn die Hürden anders nicht zu überwinden sind? Immerhin bist du noch soweit bei deinen Prinzipien geblieben, dass du mit deinem Kind erst einmal ein Kapitel sauber abschliessen willst, bevor ein neues aufgeschlagen wird. 

Doch manchmal will in dem Kapitel einfach nichts Gutes mehr kommen. Da folgen nur noch weitere Episoden im altbekannten Stil, das Kind kommt immer öfter traurig oder zornig nach Hause und wenn du von der betreffenden Lehrperson wissen willst, wie sich die Situation verbessern liesse, wartest du vergeblich auf Antwort. Es ist hier nicht der Ort, um im Detail zu erzählen, was alles schief gelaufen ist, doch an einem gewissen Punkt wird dir klar: Da kommt kein Happy Ending mehr. So kommt es schliesslich, dass du den Schlusspunkt mitten ins fast beendete Kapitel setzt – dick und fett, damit ihn auch ja keiner übersehen kann.

Es fällt nicht leicht, diesen verfrühten Schlusspunkt zu setzen und doch geht es zuweilen nicht anders.

Weil auch ein so duldsames und freundliches Kind wie der Zoowärter irgendwann die Nase voll hat.

Weil nach so vielen negativen Episoden die elterlichen Nerven blank liegen.

Weil vermutlich auch den Lehrern die Lust vergangen ist, sich mit diesen nervigen Eltern rumzuschlagen.

Und weil die gefundene Alternative Hoffnung auf einen Neuanfang macht und du daher nur zu gerne bereit bist, ein paar Überzeugungen über Bord zu werfen. 

Aufgeflogen

Der Zoowärter hat sich in eine junge Katze verliebt. Weil er seine Eltern inzwischen nur allzu gut kennt, weiss er, dass er sich Verbündete zulegen muss, wenn er bekommen will, was er sich wünscht. Kaum sieht er Karlsson und Luise, fängt er an, die Vorzüge des Tierchens zu preisen. Damit rennt er natürlich offene Türen ein, denn für Katzen sind die zwei immer zu haben. Der Zoowärter braucht bloss die Farbe des Fells zu beschreiben und den Preis zu nennen und schon sind die grossen Geschwister Feuer und Flamme. Und natürlich fassen sie auch sogleich einen Plan: „Wenn Mama und Papa dagegen sind, kaufen wir sie uns eben selber. Die kostet ja fast gar nichts.“ Nachdem das Prinzchen und der FeuerwehrRitterRömerPirat den Deal abgenickt haben, ist die Katze so gut wie gekauft.

Unsere Kinder wissen allerdings nur zu gut, dass so eine Katze Futter braucht und weil dieses Futter nicht eben billig ist, müssen sie „Meinen“ und mich halt doch ins Boot holen. Das geht für einmal schneller als sie erwartet hätten, denn es gibt da so eine Sache, von der wir den Zoowärter nur allzu gern überzeugen möchten. „Na ja, wenn der Zoowärter die Katze haben will, muss er eben….“, beginnt „Meiner“. Mehr braucht er gar nicht zu sagen. „Daran habe ich auch schon gedacht…“, pflichte ich ihm grinsend bei.

Das Prinzchen sitzt am Tisch und schaut uns mit Entsetzen an. „Ihr wollt mir doch nicht etwa sagen, dass ihr den Zoowärter mit einer Katze bestechen wollt?“ Seine Entrüstung ist echt. Nie, aber auch gar nie hätte er so etwas für möglich gehalten.

Tja, was soll man darauf antworten? Natürlich dies: „Mein liebes Kind, du glaubst doch nicht im Ernst, wir täten so etwas zum ersten Mal?“

Und wer jetzt denkt, „Meiner“ und ich seien ein ganz und gar verkommenes Pack, dem sei gesagt: Wer Kinder hat und nicht zumindest schon mal mit solchen Gedanken gespielt hat, werfe den ersten Stein.

 

Unterschätze nie eine Fünfzehnjährige!

An alle, die auf Twitter & Co. behaupten, eine Fünfzehnjährige würde nie von sich aus auf die Idee kommen, den Mächtigen der Welt die Leviten zu lesen:

Ich lade euch herzlich dazu ein, bei uns am Tisch zu sitzen, wenn Luise von der Schule nach Hause kommt, damit ihr mal miterleben könnt, welche Gedanken sich junge Frauen heute so machen. Plant am besten genügend Zeit ein, denn wenn Luise mal loslegt, dann dauert das lange. So lange, bis sie den Eindruck hat, es sei ihr gelungen, ihr Gegenüber zu überzeugen. Oder bis sie ansatzweise eine Idee gefunden hat, wie die Welt noch zu retten sei. Oder bis sie ihrem Ärger über die Bornierten, die nicht sehen wollen, dass kein Mensch wertlos ist, soweit Luft gemacht hat, dass ihr Kopf wieder frei ist für andere Dinge.

Egal, zu welcher Diskussion sie sich gerade angestachelt sieht – Umweltschutz, Rassismus, Sexismus, Ausbeutung, Lohnungleichheit -, wenn sie erst mal in Fahrt ist, sprudeln die Argumente nur so aus ihr heraus. Und glaubt mir, das, was sie zu sagen hat, ist durchdacht und ergibt einen Sinn. Klar, wenn sich alles ein wenig gesetzt hat, findet man durchaus Lücken in ihrer Argumentation und natürlich muss man ihr als halbwegs reifer Erwachsener auch mal erklären, die Welt lasse sich nicht ganz so leicht in Gut und Böse einteilen. Doch das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist, dass Fünfzehnjährige sich sehr wohl Gedanken machen über unsere Gesellschaft und unsere Welt. Sie sehen sonnenklar, dass die Generation, die am Steuer sitzt, gerade dabei ist, den Karren gegen die Wand zu fahren. Und sie zerbrechen sich den Kopf darüber, warum wir, die wir doch eigentlich erwachsen wären, das nicht sehen. Natürlich hätte nicht jede den Mut, ihre Sicht der Dinge vor grossem Publikum vorzutragen, aber das heisst nicht, dass die heranwachsende Generation sich keine Gedanken macht.

Also hört auf, darüber zu spekulieren, wer die junge Frau, die am Weltklimagipfel Klartext geredet hat, wohl angestachelt haben könnte. Fragt euch lieber, warum Fünfzehnjährige euch nicht mehr zutrauen, dass ihr schon die richtigen Entscheidungen für unseren Planeten treffen werdet.

B1713E89-4954-4BA7-9EA5-90CE40A9A44D

 

Marktgetümmel

„Ich war noch nie auf einem Weihnachtsmarkt“, stellte Luise neulich mit Erstaunen fest. Und wie immer, wenn ein Teenager mit Erstaunen feststellt, dass er oder sie etwas noch nie getan hat, folgte sogleich die Frage: „Warum war ich eigentlich noch nie auf einem Weihnachtsmarkt?“

Eine kleine Frage nur, in der aber unterschwellig der Vorwurf mitschwingt, den wir Eltern so furchtbar gerne hören: „Während alle anderen sich in der Adventszeit bei frostigen Temperaturen an festlich geschmückten Marktständen, Lebkuchenherzen, heissem Punsch und Drehorgel-Gedudel erfreuen durften, mussten wir uns mit euch in der warmen Stube bei Mailänderli, Kerzenschein und Adventsgeschichten langweilen. Wie konntet ihr uns ein solches Vergnügen bloss vorenthalten? Liebt ihr uns denn überhaupt?“

Ich erklärte Luise, wir liebten unsere Kinder sehr wohl und zwar so sehr, dass es für uns nicht in Frage gekommen wäre, ihnen anzutun, was so viele Eltern sich und ihren armen Kleinen zumuten: Mit Kinderwagen und Kleinkind in der glühweinseligen Menge beinahe erdrückt werden, in der Warteschlange beim Karussell die Geduld und die Nerven verlieren und sich erst dann wieder erschöpft nach Hause schleppen, wenn das Portemonnaie leer ist und jede klebrige Kinderhand ein wertloses Plastikspielzeug oder die Schnur eines überteuerten Luftballons umklammert. Ich erklärte meiner Tochter, dass fürsorgliche Eltern ihren Knöpfen so etwas nach Möglichkeit ersparen.

Luise tat so, als könnte sie meine Erklärung nachvollziehen, fragte dann aber doch mit himmelblauem Augenaufschlag: „Mama, gehen wir mal zusammen auf den Weihnachtsmarkt?“ Weil ich inzwischen keine kleinen Kinder mehr habe, die als Ausrede herhalten können, sah ich keinen triftigen Grund, ihr den Wunsch abzuschlagen und so fuhren wir heute mit dem Zug nach Basel.

Ich könnte jetzt des Langen und Breiten von dem Nachmittag erzählen, den Luise, das Prinzchen und ich hinter uns haben. Ich könnte ein Klagelied anstimmen, in dem kläglich schreiende Babies, widerlicher Weihnachtskitsch, beissend kalter Wind und ein Ellbogen, der mir mit voller Absicht und viel Wut in die Seite gerammt wurde, vorkommen. 

Ich kann mich aber auch ganz kurz und knapp fassen: Nach insgesamt etwa dreissig Minuten in Marktgetümmel meinten Luise und das Prinzchen, sie hätten genug gesehen, wir könnten jetzt nach Hause fahren.

Womit bewiesen wäre, dass Weihnachtsmärkte auch ohne Kinderwagen und Kleinkind eine Zumutung sind.

Bindeglied zwischen zwei Welten

Auf der einen Seite ist meine Mutter, aufgewachsen in einer Zeit, in der man, wenn man eine Einzahlung machen wollte, sein Geld am Bankschalter bezog und damit zum Postschalter ging, um es dort mithilfe eines Einzahlungsscheins einzuzahlen. Natürlich bekam sie mit, dass sich die Dinge im Laufe der Jahre änderten und sie bemühte sich auch darum, so gut als möglich Schritt zu halten mit den Veränderungen, von denen sie direkt betroffen war. Doch während ihre Familie in Schule und Beruf die zunehmende Digitalisierung Schritt für Schritt mitmachte, blieb für sie das Ganze ein Buch mit sieben Siegeln, von denen sie vielleicht zwei oder drei mit Unterstützung ihrer Kinder zu öffnen vermochte.

Auf der anderen Seite ist ein Jüngelchen, der sich im Call Center mit den Fragen herumschlägt, die ihm Leute stellen, die beim Online Banking ein Problem haben. Eine Welt ohne Internet hat er nie gekannt, Einzahlungen hat er vermutlich noch nie anders als online erledigt. Dass es Menschen gibt, in deren Leben alles Digitale nur eine marginale Rolle spielt, kann er sich schlicht nicht vorstellen. Seinen ganzen Arbeitstag verbringt er vor dem Bildschirm, seinen Feierabend vermutlich abwechselnd am Handy, an der Konsole und am Tablet. Wahrscheinlich kann man es ihm nicht verübeln, dass er sich nicht vorstellen kann, wie anders der Alltag einer Frau aussieht, die vor dem zweiten Weltkrieg zur Welt gekommen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass irgend jemand sich die Mühe genommen hat, den jungen Mann im Umgang mit diesen Menschen aus einer anderen Zeit zu schulen. Warum auch? Die haben doch bestimmt alle irgendwo ein paar Töchter oder Söhne, die sich um solche Sachen kümmern können.

Das ist der Punkt, wo ich als Bindeglied dieser zwei Welten ins Spiel komme. Als die Bank meiner Mutter mitteilte, für ihre Zahlungsaufträge per Briefpost würden in Zukunft hohe Gebühren verrechnet, war ich mit meinem iPad zur Stelle, um fortan das Online Banking für sie zu erledigen. Das funktionierte sehr gut – bis zu dem Tag, an dem mein iPad bei einem meiner Balanceakte zwischen analoger Hausarbeit und digitaler Kopfarbeit das Zeitliche segnete. Das neue iPad, das bald darauf seinen Dienst bei mir antrat, wäre nur zu gerne bereit gewesen, sich weiterhin um die Zahlungen meiner Mutter zu kümmern, doch leider hatte die Bank da ihre Vorbehalte. „Einem Gerät, das wir nicht kennen, vertrauen wir nicht“, liess man mich beim Login via Warnmeldung wissen und so kam es, dass ich mich an das Jüngelchen im Call Center wenden musste.

Tja, und das Jüngelchen vertraute mir natürlich auch nicht. Kann ich verstehen, er hat da seine Vorschriften und es soll ja tatsächlich Töchter und Söhne geben, die ihre arglosen Eltern ausnehmen wollen. Was ich jedoch nicht verstehen kann: Warum kann mir das Jüngelchen nicht klipp und klar sagen, was meine Mutter und ich tun müssen, um mein iPad möglichst schnell und unkompliziert wieder mit dem Konto meiner Mutter zu verbinden. Schickt man uns neue Logindaten? Müssen wir noch einmal beim Bankschalter antraben? Könnte man das Problem allenfalls telefonisch lösen?

Kann er mir alles nicht beantworten, wenn er nicht vorher meine Mutter ans Telefon bekommt, um ihr ganz viele Kontrollfragen zu stellen, für deren Beantwortung sie ihre Papiere hervorkramen muss, weil sie die Zahlen doch nicht alle auswendig im Kopf hat. Erst, nachdem es ihm gelungen ist, sie komplett durcheinander zu bringen, darf er ihr die Antwort auf meine Frage geben: Jawohl, sie bekommt per Post ein neues Login zugestellt.

Dass sich die Sicherheitsfragen und die ganze Verwirrung erübrigt hätten, weil das Login ohnehin nur angewendet wird, wenn meine Mutter mir im Vertrauen, dass ich sie nicht übers Ohr haue, den Brief übergibt, versteht er nicht. In der Welt, in der das Jüngelchen lebt, gibt es keine Menschen, die so ein Login nicht selber einrichten können.

Und dass sich dank dieser Geschichte eine Frau, die in ihrem Leben enorm viel geleistet und dabei die Digitalisierung verpasst hat, ziemlich abgehängt vorkommen muss, interessiert ohnehin niemanden. Zumindest nicht jene, die bei all den Veränderungen, die sie vorantreiben, vergessen, dass es auch noch Menschen gibt, die in einer anderen Zeit gross geworden sind.

Denksport zum Feierabend

Familie V. wohnt in S.

Auf dem Parkplatz von Familie V. steht ein Ersatzfahrzeug mit fünf Sitzplätzen, das nach W. (3 km Entfernung von S.) gebracht werden sollte. Dort ist der Siebenplätzer von Familie V., der heute einen Termin auf dem Strassenverkehrsamt hatte, ab 16 Uhr abholbereit.

Papa V. ist von 13:30 bis 17:00 in B. (7,7 km Entfernung von S.) in einer Weiterbildung. Mama V. soll Papa V. um 13:15 nach B. fahren.

Mama V. muss am Nachmittag 2 Stunden arbeiten. 

Zoowärter V. muss um 16:00 zu Hause sein. Um 16.20 wird er in der Cellostunde erwartet. Da er erst um 16:08 gemütlich die Treppe hochkommt, muss sich Mama V. mit ihrer Moralpredigt über Pünktlichkeit kurz fassen, damit er trotzdem rechtzeitig zur Cellostunde kommt.

Mama V. ist gebeten, um 16 Uhr in W. das Ersatzauto gegen den familieneigenen Siebenplätzer einzutauschen.

Karlsson V. hat um 17:00 in O. (8,6 km Entfernung von S.) einen Auftritt mit der Violine.

Spätestens um 16:30 muss Mama V. mit Grossmama M. losfahren, wenn sie den Auftritt in O. nicht verpassen will. 

Prinzchen V. und seine fünf besten Freunde haben um 16 Uhr eine Akrobatikstunde in L. (6,6 km Entfernung von S.) Alle Kinder sollen in einem Auto Platz finden. Neben Familie V. haben zwei weitere Familien ein Auto mit sieben und mehr Sitzplätzen. Die eine Familie ist zum Zeitpunkt der Tagesplanung nicht erreichbar, von der anderen Familie weiss Mama V. gar nichts, da Prinzchen V. es versäumt hat, ihr zu sagen, dass dieser Junge auch mit von der Partie ist. Mama V. kann die Kinder aber auch nicht fahren, da sie um diese Zeit in O. dem Auftritt ihres Sohnes lauschen wird. Papa V. fährt nach der Weiterbildung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von B. zurück und wird daher auch nicht rechtzeitig da sein, um die Jungs zu chauffieren.

Die Vorspielstunde, bei der Karlsson V. mitmacht, dauert bis 18:30. Mama V. muss danach sofort mit Grossmama M. und Karlsson V. zurück nach S. fahren, damit sie um 19:00 in L. ist, wo die sechs Jungs von der Akrobatikstunde abgeholt und nach Hause gebracht werden wollen. Nach Möglichkeit sollte Mama V. um 19:30 zu Hause sein. 

Papa. V. muss spätestens um 19:45 los, wenn er rechtzeitig in S. (7,8 km Entfernung von S.) sein will, wo er sich mit einem Freund trifft. 

Aufgabe: Plane den Tag so, dass am Ende kein Familienmitglied von dir enttäuscht ist. Da der Siebenplätzer abends wieder unversehrt auf dem Parkplatz von Familie V. stehen soll, bist du gebeten, in jedem Moment einen kühlen Kopf zu bewahren. 

Beachte: Auf allen Strassen rund um S. hat es zahlreiche Baustellen. Ausserdem herrscht ab 16:30 in alle Richtungen dichter Feierabendverkehr. Die Pünktlichkeit darf dadurch nicht beeinträchtig werden.

Lösung: Die sei hier nicht verraten. Es soll ja da draussen Menschen geben, die sich hin und wieder langweilen und darum aus lauter Freude an der Sache gerne mal solche Denksportaufgaben lösen.*

* Okay, einen kleinen Hinweis kann ich ja geben: Es hilft, wenn man am frühen Nachmittag eine der Siebenplätzer-Mütter ans Telefon bekommt und ansonsten praktisch nichts so durchzieht, wie es ursprünglich geplant war. Zu erwarten, dass Mama V. abends noch Nerven hat, wäre aber ganz und gar illusorisch. 

Volljährig

Die Parties sind vorbei, die Blumen in den Vasen lassen allmählich ihre Köpfe hängen, Keller und Küche sind wieder aufgeräumt und das schöne Geschirr ist zurück im Schrank. Im Kühlschrank stehen die Reste der Fleischpastete, für die ich gestern mit Todesverachtung Schweine- und Kalbfleisch durch den Fleischwolf gedreht habe und der Herd bleibt für die nächsten drei Tage kalt, weil ich nach zweieinhalb Tagen Dauereinsatz schlicht keine Lust mehr habe, in Kochtöpfen zu rühren – was absolut kein Problem ist, denn „Meiner“ und ich haben uns mal wieder mit den Mengen vertan. Nachdem alle Gäste gegangen sind, ist im Haus wieder die übliche (Un)ruhe eingekehrt und so habe ich endlich Zeit, mich um die Glucke zu kümmern, die seit gestern früh schluchzend und schniefend im hintersten Winkel des Wohnzimmers kauert.

„Was hast du denn?“, frage ich sie so mitfühlend wie möglich. Offen gestanden habe ich nach dem Trubel der vergangenen Tage nicht gerade viel Geduld für ihre Gefühlsduseleien. 

„Es ist wegen Karlsson…“, presst sie mühsam hervor.

„Was ist denn mit Karlsson?“, frage ich, obschon ich natürlich ganz genau weiss, was sie meint. Weil sie weiss, dass ich weiss, versucht sie gar nicht erst, meine Frage zu beantworten. Sie schluchzt einfach weiter und so ist es an mir, in Worte zu fassen, was sie quält: „Karlssons achtzehnter Geburtstag war wohl ein bisschen viel für dich. Du fühlst dich grad, als würde er morgen ausziehen und nie mehr wieder kommen.“ Mit grossen, traurigen Augen sieht sie mich an und nickt, bleibt aber weiter stumm. „Bei der Erinnerung daran, wie er gestern seinen ersten Abstimmungszettel ausgefüllt und voller Stolz in den Briefkasten der Gemeindekanzlei eingeworfen hat, bricht dir fast das Herz.“ Sie nickt wieder, wischt sich mit dem Ärmel die triefende Nase sauber, sagt aber noch immer nichts. „Du denkst voller Wehmut an die vergangenen Tage mit kleinen Jungen mit den braunen Kulleraugen und dem Eisbären-Teddy und wünschst dir, die Zeit wäre nicht so furchtbar schnell verflogen.“ Sie wimmert leise: „Mein kleiner, lieber Kaslsson…“ Und dann heult sie wieder Rotz und Wasser.

Ich glaube, die Glucke ist heute nicht empfänglich für das, was ich ihr zu sagen habe: Dass ihr kleiner, lieber Karlsson jetzt halt ein grosser, lieber Karlsson ist. Dass er zwar volljährig, aber deswegen noch längst nicht flügge ist. Dass ihr ehemals kleiner Junge sich doch ganz gut macht. Und dass es durchaus seine Vorzüge hat, mit halbwegs erwachsenen Kindern durchs Leben zu gehen. 

Ich glaube, die Glucke braucht noch ein wenig Zeit, sich damit abzufinden, dass ihr Erstgeborener allmählich erwachsen wird. Darum lasse ich sie schniefend und schluchzend in ihrer Ecke sitzen, um mit Karlsson auf seine Volljährigkeit anzustossen. 

Was man im Spätherbst halt so tut…

Was ich eigentlich tun müsste:

  • Geburtstagsgeschenke für Karlsson organisieren
  • Das Menü für Karlssons 18. Geburtstag planen
  • Einen Termin mit dem Samichlaus vereinbaren
  • Den Adventskalender zusammenstellen
  • Zutaten für Christstollen bestellen
  • Mich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob ich den kindlichen Wünschen nach Weihnachtsdekoration nachgeben soll, oder ob ich mich einmal mehr taub stelle, weil ich auch im Jahr 18 nach Familiengründung noch kein Flair für solche Dinge entwickelt habe
  • Weihnachtswünsche zusammentragen
  • Tief in mich gehen, um zu spüren, ob ich in diesem Jahr die Nerven für einen weiteren Panettone-Versuch habe oder ob ich damit den Familienfrieden ernsthaft gefährden würde

Was ich stattdessen tue:

  • Im Garten an den Veilchen riechen
  • Vereinzelte Walderdbeeren und Himbeeren pflücken
  • Die Peperoni, die in Töpfen auf dem Fenstersims reifen, hegen und pflegen
  • Auf dem Balkon und im Wohnzimmer zweijährige Stauden heranziehen
  • Nachprüfen, ob die zweite Physalis-Ernte bald soweit ist
  • Dem frühlingshaften Vogelgezwitscher lauschen
  • Mich über Menschen ärgern, die sich lauthals über die „elende Kälte und das nasse Wetter“ beklagen
  • Immer mal wieder ein wenig jäten
  • Zucchini ernten

Also einfach das, was man halt so tut, wenn sich der November nicht entscheiden kann, ob er lieber April, September oder vielleicht doch so etwas wie ein Spätherbstmonat sein möchte…

 

So kauft man doch (k)ein Auto!

Wie die Geschichte mit dem kaputten Auto weitergegangen ist? Nun… ganz anders als Auto-Geschichten bei uns gewöhnlich laufen. Als bekennende Autohasser schieben „Meiner“ und ich jeden Autokauf so lange vor uns her, wie es nur geht, um uns dann, wenn die Karre schon fast schlapp gemacht hat, verzweifelt irgendwo einen fahrbaren Untersatz aufzutreiben. Weil wir von Autos nicht das Geringste verstehen, taugt das Ding dann meistens nicht besonders viel und so müssen wir uns ein paar Jahre später wieder mit der leidigen Angelegenheit herumschlagen

Diesmal war alles anders.

Diesmal sagte „Meiner“ zum Garagisten: „Suchen Sie uns doch bitte ein Auto, wir haben von Tuten und Blasen keine Ahnung.“ Er nannte ein paar Kriterien, die uns wichtig sind und vierundzwanzig Stunden später bekam ich mitten in einer Sitzung die Nachricht von meinem Herrn Gemahl: „Auto gekauft. Morgen können wir es abholen.“

Zugegeben, zuerst war ich ziemlich sauer, denn als ich Details erfahren wollte, konnte er mir gerade mal die Farbe (schwarz), den Kilometerstand (irgend eine Zahl, die mir ohnehin nichts sagt) und den Preis (an der unteren Grenze unseres Budgets) nennen. „Himmel, so kauft man doch kein Auto!“, seufzte ich und nahm mir vor, „Meinem“ am Abend tüchtig die Meinung zu sagen.

„Meiner“ hatte aber mal wieder Glück. Kaum war ich zu Hause angekommen, musste er auch schon wieder weg und während er weg war, hatte die Stimme der Vernunft sehr viel Zeit, beruhigend auf mich einzureden. „Früher habt ihr eure Autos immer selber ausgesucht…“, fing sie an. „Genau! So etwas macht man doch gemeinsam, wenn man verheiratet ist“,  unterbrach ich sie aufgebracht. „Ja, ihr habt das immer gemeinsam gemacht, aber wie ist das jeweils ausgegangen?“, sagte sie sanft und sah mich dabei an, wie man ein begriffsstutziges kleines Kind ansieht. „Na ja… nicht besonders gut…“, gestand ich kleinlaut. „Nicht besonders gut? Du untertreibst mal wieder, meine Liebe. Eine Katastrophe war das mit euch beiden. Erinnerst du dich an den Kia, der andauernd auf offener Strasse stehen blieb? Und an den Fiat, bei dem irgendwann ohne äussere Einwirkung die Fensterscheibe in tausend Scherben zersprang? Und wie war das nochmal mit der letzten Karre, die nach so kurzer Zeit bereits den Geist aufgegeben hat, obschon ihr sie für so perfekt gehalten habt? Ach ja, und dann war da noch…“ „Schon gut, ich habe verstanden“, sagte ich mit einem müden Lächeln. „Dann siehst du also ein, dass man dir und ‚Deinem‘ in Sachen Autokauf so gar nichts zutrauen kann?“ Ich nickte brav. „Siehst du auch ein, dass ihr jetzt erst recht wieder Mist gebaut hättet, weil ihr die komischen Motorengeräusche so lange überhört habt, bis ihr gar keine andere Wahl mehr hattet, als sofort ein neues Auto aufzutreiben?“ Ich nickte noch einmal brav. „Dann siehst du also bestimmt auch ein, dass es das Klügste war, euch aus der Sache rauszuhalten und die Suche einem Fachmann zu überlassen.“ Ich nickte ein drittes Mal brav und als „Meiner“ nach Hause kam, konnte ich ganz ehrlich sagen: „Ich habe zwar keine Ahnung, was wir für ein Auto bekommen, aber ich glaube, das hast du irgendwie doch ganz gut gemacht.“

Und das denke ich jetzt, wo ich das Auto zu Gesicht bekommen habe, noch immer. Obschon ich nie im Leben ein schwarzes Auto hätte fahren wollen.

Aber vielleicht achten Menschen, die etwas von Autos verstehen, auch nicht auf die Farbe…