Ohne Augenzwinkern

Ein Zitat, welches der Audioguide beim Besuch von Astrid Lindgrens Geburtshaus in mein Ohr sprach, geht mir nicht mehr aus dem Kopf: „Viele, die für Kinder schreiben, zwinkern über die Köpfe ihrer kindlichen Leser hinweg verschmitzt einem gedachten Leser zu, sie blinzeln Einverständnis mit den Erwachsenen und übergehen das Kind. Das ist eine Unverschämtheit dem Kind gegenüber.“

Damit bringt Astrid Lindgren genau das auf den Punkt, was mich als Kind schon immer beim Lesen gestört hat und was mich heute noch stört, wenn ich unseren Kindern vorlese. Diese Geschichten, die so verkrampf originell und anders sein wollen, die damit beeindrucken wollen, dass sie ein aussergewöhnliches Thema aufgreifen, mit dem sich die Kinder gefälligst einmal befassen sollen. Wie ich sie doch gehasst habe, diese Bücher! Wie unsere Kinder sie doch hassen, diese Bücher!

Ich konnte mich nicht lange darüber freuen, dass ich endlich einmal in Worte gefasst hörte, was ich schon so lange selber hätte sagen wollen. Mein nächster Gedanke war nämlich, ob ich nicht am Ende die gleiche Unverschämtheit begehe, wenn ich für Kinder schreibe. Obschon ich mir beim Schreiben in erster Linie meine eigenen Kinder, ihre Cousins, Cousinen und Freunde vorstelle, bin ich nicht davor gefeit, auch den Erwachsenen gefallen zu wollen, die das Buch gut genug finden sollen, um es ihren Kindern kaufen und vorlesen zu wollen. Mit diesem Spannungsfeld werde ich mich wohl noch eine ganze Weile auseinandersetzen müssen.

Doch das, was Astrid Lindgren beschreibt, geschieht nicht alleine beim Schreiben. Da gibt es Spielplätze mit Spielgeräten vom Designer, die vollkommen spieluntauglich sind. Die Städte, in denen sie stehen, bekommen Auszeichnungen für die gelungenen Anlagen, doch die Kinder stehen hilflos da und wissen nicht so recht, wie sie hier spielen sollen. Museumspädagogen planen Projekte, die in den Medien gerühmt werden und wenn sich ausnahmsweise mal ein Kind ins Museum verirrt, stellt sich heraus, dass die Pädagogen mit ihm nichts anzufangen wissen, weil es so gar nicht ins pädagogische Konzept passen, sondern einfach nur mit allen Sinnen entdecken will. Familienpolitiker werkeln an Programmen, die zum Vornherein zum Scheitern verurteilt sind, weil stets nur auf die erwachsenen Wähler geschielt wird, nicht aber auf die kleinen Menschen, die ja eigentlich im Zentrum jeder Familienpolitik stehen sollten. Ähnliches geschieht in der Schulpolitik, nur dass hier die Wirtschaftsbosse beeindruckt werden sollen. 

Überall zwinkern sie sich über den Köpfen der Kinder hinweg zu, diese Erwachsenen. Ich bin froh, dass Astrid Lindgren darauf aufmerksam gemacht hat, denn so kann ich zumindest daran arbeiten, es selber möglichst wenig zu tun. 

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Nach zwei Tagen…

…die wir damit verbracht haben, in winzige, bunte Holzhäuschen zu kriechen, auf riesengrosse Möbelstücke zu klettern, Michel, Klein-Ida, Nils-Karlsson Däumling, Madita, Karlsson vom Dach und Ronja Räubertochter auf der Bühne zu bewundern, an lauschigen Plätzen zu picknicken, die Kinder dabei zu bewundern, wie grossartig sie den „Nicht den Fussboden berühren“-Parcours meistern, zu diskutieren, ob Frau Petrells Haus nicht stattlicher sein müsste, nach dem perfekten Souvenir zu suchen und immer und immer wieder zu sagen, wie grossartig diese Frau Lindgren doch war, haben „Meiner“ und ich nur noch das eine Bedürfnis: Schlafen und vom einfachen Leben in Bullerbü träumen. Oh ja, wir haben die Besuche in Astrid Lindgrens Värld genossen, doch jetzt sind wir hundemüde.

Unsere Kinder aber haben dort nicht nur Zuckerstangen, Postkarten, Krumulus-Pillen, Kuckelimuck-Medizin und ein Madita-Kleidchen erstanden, sondern offensichtlich auch eine ganze Menge Energie. Und so spielen sie bis zur Dämmerung – also bis elf Uhr oder so – auf dem Rasen vor dem Haus das Leben in Lönneberga nach. Da werden Missetäter in den Tischlerschuppen geschickt, es werden Spukgeschichten erzählt, man tanzt einen abendlichen Walzer und immer wieder ertönt die Bitte: „Mama, singst du mit uns Klein-Idas Sommerlied und dann noch das Lied von Karlsson und dann noch…“. Ja, und dann glauben sie doch allen Ernstes, wir könnten vor dem Eindunkeln noch im nahe gelegenen See baden gehen, so, wie Michel und Alfred das getan haben.

Einfach herrlich, ich weiss und mir wird auch ganz warm ums Herz, wenn die Fünf so erfüllt sind von dem, was wir gesehen und erlebt haben. Aber werden die denn nie müde?

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Bildungslücken füllen

Heute Nachmittag, als wir gemütlich durch Mariannelund schlenderten, wurde auf einmal eine riesige Bildungslücke sichtbar. “ Mama, weisst du noch, wie der Michel einmal mit seiner Büsse einen Dieb verjagte?“, fragte Karlsson. „Und als er Klein-Ida an der Fahnenstange hochzog? Das muss ein Spass gewesen sein…“, sagte Luise. „Und sein armer Papa war immer das Opfer…“, meinte der FeuerwehrRitterRömerPirat kichernd. „Oh ja, der arme Papa mit dem Blutklösseteig…“, fing ich an, doch der Zoowärter unterbrach mich: „Was hat der Michel mit der Fahnenstange gemacht?“ Und noch ehe ich antworten konnte, wollte das Prinzchen wissen, was denn eine Büsse sei. Als ich nicht gleich zu erklären begann, wandte sich das Prinzchen an „Meinen“: „Papa, was ist eine Büsse und warum hatte der Michel eine?“ „Also, äääähh, ich glaube…also ja, da musst du die Mama fragen…“, stammelte „Meiner“ und da dämmerte mir, dass etwas geschehen muss und zwar sofort.

„Luise, hast du nicht den ‚Michel‘ mitgenommen?“, fragte ich. Als sie bejahte, stand das Programm für heute Abend fest: Zuerst ein Ausschnitt aus dem Bullerbü-Film, dann ein Kapitel „Michel“ für die Kleinen und schliesslich Pflichtlektüre für „Meinen“. Karlsson, Luise, der FeuerwehrRitterRömerPirat und ich können uns doch unmöglich mit solch ungebildetem Pack in Vimmerby zeigen.

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Sehr verehrte Frau Lindgren

Nie und nimmer würde ich es wagen, Sie in irgend einer Weise zu kritisieren. Zu sehr liebe ich die Geschichten, die Sie erzählen, zu sehr haben Sie meine Kinder in Ihren Bann gezogen. Wie sollte ich Sie da kritisieren können? Eine Frage aber habe ich an Sie: Glauben Sie wirklich im Ernst, dass die Kinder, die sich gegenseitig in der Dunkelheit der Nacht Spukgeschichten erzählen, danach friedlich einschlafen und erst frühmorgens beim ersten Hahnenschrei wieder frisch und fröhlich erwachen? Ist es nicht viel eher so, dass sich die Kinder gegenseitig hochschaukeln mit immer unheimlicheren Geschichten, bis sie am Ende vor Angst zitternd bei Mama und Papa auf dem Sofa sitzen und nicht mehr wagen, zurück ins Bett zu gehen? Wenn Mama und Papa dann vorschlagen, die Kinder sollten sich stattdessen schöne Geschichten erzählen, klagen sie, das hätten sie ja bereits mehrmals versucht, aber am Ende sei doch wieder irgend ein böser Mensch aus der Schublade gekrochen gekommen oder es hätten schreckliche rote Augen in der Dunkelheit geleuchtet und darum müssten sie jetzt alle zusammen bei Mama und Papa im Bett schlafen.

Bei ihnen, Frau Lindgren steht nie etwas davon, dass die Kinder am Ende in Mamas oder Papas Bett gekrochen sind. Da mag zwar die kleine Lisa hin und wieder etwas kreischen, wenn die grossen Brüder Bindfäden an den Stühlen festmachen, um die Möbel zum Tanzen zu bringen, aber damit hat sich’s mit der Angst. Nun quält mich natürlich die Frage, ob unsere Kinder allesamt kleine Memmen sind, die keine anständigen Spukgeschichten ertragen können. Oder haben die Kinder ihre Angst bloss gespielt, damit sie uns ihre schrecklichen Geschichten erzählen und damit testen können, ob „Meiner“ und ich danach vor lauter Angst nicht mehr schlafen können? Könnte ja sein. Ich höre da nämlich so ein eigenartiges Knacken und Schritte in der oberen Etage…

Also das geht zu weit, mein Sohn!

Einmal im Jahr, wenn die Ikea zum spätsommerlichen Flusskrebse-Essen einlädt, gibt’s auch bei Vendittis Flusskrebse. Das gehört für Kinder, welche die „Kinder aus Bullerbü“ fast auswendig kennen einfach dazu. Abgesehen von Karlsson und „Meinem“ mag zwar eigentlich niemand Flusskrebse, aber dennoch macht die ganze Familie begeistert mit beim Sezieren der armen Tierchen. Die ganze Familie? Nein! Eine unbeugsame Vegetarierin hört nicht auf, dem Frevel Widerstand zu leisten. Auch wenn es genau diese unbeugsame Vegetarierin ist, die alljährlich die armen tiefgekühlten Krebse einkauft, aber das ist ein anderes Thema.

Tags darauf ist der Spuk mit den Flusskrebsen wieder vorbei und wäre da nicht diese Schüssel mit den Überresten, es würde sich keiner mehr an die Sache erinnern. Ausser Karlsson natürlich, der die Überreste stolz dem Nachbarjungen präsentiert: „Schau mal, was wir gestern zum Abendessen bekommen haben!“, brüstet er sich und fährt dann fort: „Aber Mama war natürlich zu feige dazu, die Dinger zu essen.“ Dann denkt er eine Weile lang nach und schliesslich meint er: „Eigentlich müsste es ja ‚Feigetarier‘ heissen, weil die einfach zu feige sind, Fleisch zu essen.“

Vielleicht schicke ich den Jungen demnächst mal zu einer Besichtigungstour in den Schlachthof. Mal sehen, ob wir danach nicht einen „Feigetarier“ mehr in der Familie haben….

Ab in den Tischlerschuppen!

Als Kind konnte ich nie so recht begreifen, was meine Mutter gegen Michel aus Lönneberga hatte. Und gegen Pipi Langstrumpf. Und gegen Karlsson vom Dach. Sind doch wunderbare Geschichten, sagte ich mir, lachte mich bei der Lektüre fast krank und stopfte jedesmal, wenn die Kinder im Buch etwas assen, ein Butterbrot in mich hinein. Was man mir natürlich schon bald einmal ansehen konnte. Denn im Gegensatz zu den Kindern im Buch rannte ich ja zwischen den Mahlzeiten nicht über Wiesen, kletterte nicht auf Bäume und ging schon gar nicht zum See um Krebse zu fangen. Und natürlich wäre es mir nicht im Traum eingefallen, die Kinder nachzuahmen. Dazu war ich viel zu brav. Und viel zu faul.

Noch heute kann ich nicht begreifen, was man gegen Michel, Pipi & Co. haben könnte, doch zuweilen beschleichen mich Zweifel, ob es denn wirklich klug sei, den Kindern täglich mindestens einen von Michels Streichen in voller Länge zu erzählen. Und mit den Kindern mitzulachen. Heute Morgen zum Beispiel waren meine Zweifel mal wieder sehr gross, als der FeuerwehrRitterRömerPirat, kaum war das Treppenhaus fertig geputzt, einen Kessel voller Wasser über das Treppengeländer kippte und zwar mit voller Absicht und breitem Grinsen im Gesicht. Es dauerte nicht lange, bis ich herausbekam, dass der FeuerwehrRitterRömerPirat zwar der Haupttäter, nicht aber der Alleinschuldige war. Karlsson und Luise hatten ihn bei der Planung tatkräftig unterstützt und nach weiterem Bohren beichteten sie mir, dass sie eigentlich etwas „viel Lustigeres“ im Schilde geführt hatten und dass der FeuerwehrRitterRömerPirat „den ganzen Spass vermasselt“ habe. Der „viel lustigere Streich“ wäre gewesen, dass die drei das Wasser über meinem Kopf ausschütten würden und dann vermutlich voller Genuss auf das berühmte „Blupp“ gewartet hätten. Ob das Wasser im Kessel warm oder kalt war, habe ich gar nicht erst gefragt.

Eigentlich ist es ja nicht verwunderlich, dass die drei auf solche Ideen kommen. Wissen sie doch ganz genau, dass wir keinen Tischlerschuppen haben, in den ich sie sperren könnte, damit sie über ihren Unfug nachdenken und Holzmännchen schnitzen könnten. Auf welche Ideen sie erst kommen würden, wenn sie zu dritt im Tischlerschuppen wären, male ich mir lieber gar nicht erst aus…

Und falls ihr wissen möchtet, wie die „(B)engel zurzeit aussehen, könnt ihr hier meine aktualisierte Bildergalerie anschauen.