Wer ist hier alt?!

Heute früh an der Reception ein für meine Ohren äusserst erbauliches Gespräch zwischen zwei Angestellten, beide um die Zwanzig.

Receptionistin: „Meine Mutter ist jung.“

Kellnerin: „Wie alt ist sie denn?“

R: „Dreiundvierzig.“

K: „Boah, so alt!“

R: „Dreiundvierzig ist nicht alt.“

K: „Aber sicher doch. Steinalt.“

R: „Sicher nicht. Ich bin fast zwanzig, sie ist dreiundvierzig, mein Bruder ist acht. Sie ist jung.“

K: „Glaub mir, sie ist alt. Alles über vierzig ist alt.“

Da überlege ich mir doch gleich, ob ich vor der Abreise noch kurz einen auf Obelix machen soll. Ihr versteht schon: Mit irrem Blick in den Frühstücksraum platzen, mich vor der Kellnerin aufbauen und brüllen: „Wer ist hier alt?!“

Und danach der Receptionistin für ihr Wohlverhalten provokativ ein fettes Trinkgeld zuschieben. 

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Gleich um die Ecke

Das Spannende an der Schweiz ist ja, dass man nur ein paar Kilometer reisen muss, um in eine ganz und gar andere Welt zu gelangen. Diesmal bin ich an einem Ort gelandet,

  • wo es Menschen gibt, die sich offiziell Wisel nennen und gäbe es Google nicht, wüsste man nicht, ob das ein ernst gemeinter Vorname oder eine ziemlich schräge Verballhornung ist. (Glaubt bloss nicht, ich würde euch die Antwort liefern, selber denken macht schlauer.)
  • wo Frauen in Netzstümpfen, hochhackigen Stiefeln und ultrakurzem Mini am Brunnen vor dem Kloster das (in meinen Augen angeblich) heilige Wasser gleich kanisterweise abfüllen.
  • wo Anzugsträger zwischen zwei Terminen das gleiche (in meinen Augen angeblich) heilige Wasser gierig vom Brunnen trinken. 
  • wo am Sonntagmorgen alle Richtung Klosterkirche strömen, du als einzige gegen den Strom gehst und deshalb andauernd vom Trottoir gedrängt wirst, was dir auch ganz recht geschieht, wo du dich mit deinem gegen den Strom-Gehen zweifelsfrei als Ketzerin entlarvst.
  • wo ein gestandener, elegant gekleideter Herr ein riesiges Goldkreuz an einer Halskette spazieren führt.  
  • wo man es sich trotz offensichtlicher Frömmigkeit nicht nehmen lässt, am vierten Advent sämtliche Geschäfte offen zu haben. 
  • wo die Einwohner offenbar nicht nur einander mit Vornamen kennen, sondern auch noch wissen, wie der Hund an der Leine heisst.

Wahrlich ein spannender Ort für eine, die gerne beobachtet, ohne dazu zu gehören und darum habe ich mich von „Meinem“ dazu überreden lassen, eine Nacht länger zu bleiben. Die Glucke weiss noch nichts davon. Ich schätze mal, das gibt ein Donnerwetter, wenn ich am Dienstag um die Mittagszeit nach Hause komme.

Ich habe ihr zur Besänftigung schon mal ein paar Lebkuchen gekauft. Die sind hier nämlich besonders schön. 

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Batterien aufladen

Ich: „Ich brauche ganz dringend Ferien…“

Glucke: „Ferien? Spinnst du? Du kannst doch deine Kinder jetzt nicht im Stich lassen.“

Ich: „Ich lasse sie doch nicht im Stich. Ich brauche nur mal ein paar Tage Ruhe nach diesem anstrengenden Jahr.“

Glucke: „Du liebst sie nicht mehr!“

Ich: „Natürlich liebe ich sie, aber ich bin einfach hundemüde und möchte wieder mal einen klaren Kopf bekommen.“

Glucke: „Müde, müde, müde… Immer dieses Gejammer. Du hast keinen einzigen Grund, müde zu sein.“

Ich: „Natürlich habe ich einen Grund…oder vielmehr Gründe. Schwiegermama, die mich in den ersten Monaten des Jahres voll in Anspruch genommen hat, die viele Arbeit, die ich dann nachholen musste, Frankreich…“

Glucke: „Frankreich war doch herrlich. Den ganzen Tag mit den Kindern.“

Ich: „Klar war es herrlich, aber im Gegensatz zu ‚Meinem‘ und den Kindern hatte ich keine Ferien, sondern einfach mein übliches Familien- und Berufsleben an einem anderen Ort mit unfreundlicheren Nachbarn.“

Glucke: „Aber du hattest deine Kinder um dich…“

Ich: „Ja, das hatte ich und ich habe es genossen. Zeit, um mal ein wenig nachdenken hatte ich trotzdem nicht. Und nach Frankreich kam der Garten, dann Luises Unfall und jetzt sind sie alle krank…“

Glucke: „Genau, sie sind krank und du willst sie einfach ihrem Schicksal überlassen.“

Ich: „Ich überlasse sie nicht ihrem Schicksal, ich überlasse sie ihrem Vater.“

Glucke: „Ihrem Vater, der selber ganz dringend Ferien braucht. Und der sie übers Wochenende von einem Termin zum andern karren muss. So ein Stress…“

Ich: „Der gleiche Stress wie immer und ich muss das ja auch immer wieder ohne ihn schaffen, wenn er am Unterrichten ist.“

Glucke: „Mag sein, aber du verpasst das Weihnachtstheater, in dem Karlsson und Luise mitmachen. Das muss dir doch das Herz brechen…“

Ich: „Wie viele Weihnachtstheater habe ich in meiner Mütterkarriere schon gesehen?“

Glucke: „Man kann nie genug bekommen von Weihnachtstheatern, in denen die eigenen Kinder mitspielen.“

Ich: „Meiner kann’s ja für mich filmen.“

Glucke: „Nur ein herzloses Miststück wie du kann eine Filmaufnahme als gleichwertigen Ersatz ansehen.“

Ich: „Himmel, ich bin kein herzloses Miststück, ich will nur mal wieder ein paar Tage schlafen, lesen, schreiben und in Museen herumirren.“

Glucke: „Ein herzloses, egoistisches Miststück…“

Ich: „Nein, eine verantwortungsvolle Mutter, die weiss, dass sie hin und wieder die Batterien aufladen muss, wenn…“

Glucke: „Oh ja, genau, verantwortungsvoll… Und das am vierten Advent…“

Ich: „Genau, am vierten Advent. Das mit den freien Tagen vor Weihnachten hat bei mir ja schon fast Tradition.“

Glucke: „Du hattest auch mal die Tradition mit dem Weihnachtsstollen. Davon habe ich dieses Jahr noch nichts mitbekommen…“

Ich: „Dann warst du offensichtlich nicht aufmerksam genug. Gerade vor zehn Minuten habe ich die kandierten Früchte eingelegt.“

Glucke: „Das ist aber reichlich spät…“

Ich: „Spät, aber nicht zu spät.“

Glucke: „Trotzdem: Dein Egoismus ist schon fast Programm. „

Ich: „Noch einmal, das ist kein Egoismus. Ich gönne mir die Pause ja nur, damit ich an Heilig Abend mit frisch aufgeladenen Batterien meine Kinder nach Strich und Faden verwöhnen mag.“

Glucke: „Seit wann verwöhnst du die Kinder? Das ist mein Job.“

Ich: „Du hast ja keine Ahnung, wie gut ich mit frisch aufgeladenen Batterien verwöhne…“

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Ticken

Wie würden wir denn eigentlich ticken, wären wir nicht andauernd dem Ticken der Uhr unterworfen? Wenn wir dem Minutenzeiger nicht immer schon ein, zwei, drei Schritte hinterher wären? Wenn Sekunden keine Rolle spielten? Wenn die Stunden des Tages nicht angefüllt wären mit Dingen, die wir uns nicht selbst aufgetragen haben? 

Solche Fragen drehen manchmal in meinem Kopf, wenn wir einander zu Hause vor lauter Alltag nur noch auf die Nerven fallen. Wenn wir die Kinder und die Kinder uns anmotzen. Wenn freundliche Worte Mangelware werden. Wenn es so aussieht, als wären wir zu einer Familie geworden, die wir so nie hatten werden wollen.

„Sind wir wirklich so?“, fragen wir einander dann manchmal.

Auch hier tickt die Uhr. Nicht schneller und nicht langsamer als sonst, aber irgendwie freier. Wie, schon sechs Uhr abends? Was soll’s? Wir müssen ja heute nichts mehr. Kein Druck, kein Drängeln, kein „Mach jetzt endlich vorwärts, sonst…“ Viel Zeit, um zu sehen, wie wir ticken, wenn das Ticken der Uhr keine Rolle spielt. 

Ganz klar: Wir ticken anders. Nicht perfekt, beileibe nicht. Nicht ohne Streit, ungeduldige Worte und genervte Seufzer. Aber mit neuer Nähe. Besserem Verständnis. Mehr Liebe für Eigenarten. Einem geschärften Blick für Fähigkeiten. Mehr Musse zum Fragen, zum Antworten, zum Nachhaken.

Daraus die beruhigende Gewissheit: Wir sind nicht zu der Familie geworden, die wir so nie hatten werden wollen. Wir sind einfach eine Familie. 

callistemon laevis; prettyvenditti.jetzt

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Kalenderleere

Bis Donnerstag ist der Kalender noch voll, die To-Do-Liste erscheint endlos. Dann wendet sich das Kalenderblatt und da ist nichts mehr. Lauter leere Felder, voll und ganz terminfrei, zweieinviertel Kalenderblätter weit. Eine Leere, seit vielen Jahren unbekannt und dadurch fast schon unheimlich. Geht das noch, zeitlich frei zu sein, ohne dabei die Zeit zu verschleudern? Ohne am Ende verwundert zu fragen: „Wie? Schon vorbei? Aber ich hab doch noch gar nichts angefangen mit meinen Freiräumen“? Ein wenig unanständig sei das schon, als Erwachsene einfach eine Zeit lang abzutauchen, nicht verfügbar zu sein, meinten Freunde neulich im Scherz und ich glaube, gewisse Leute würden ihnen recht geben, nicht nur im Scherz. Zwischen dreissig und fünfzig tut man sowas einfach nicht, erst recht nicht, wenn man nicht zu den Menschen gehört, die mit einem Start-up unanständig viel Geld verdient haben und sich mit vierzig zur Ruhe setzen können. 

Nun, wir tun’s trotzdem und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir die Kalenderblätter zu füllen wissen. Halt einfach mit etwas anderem Inhalt als gewöhnlich. 

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Paartag-Gedanken

Am Abend zuvor:

„Endlich mal wieder ein Tag zu zweit nach dem ganzen Stress der vergangenen Wochen.“ 

Heute im Morgengrauen:

„Ach wie schön! Kinderfrei!“

Kurz danach:

„Was motzt „Meiner“ jetzt schon wieder rum? Nicht aufregen, wir haben kinderfrei…“

Noch etwas später:

„Himmel, kann der nicht mal zuhören, wenn ich etwas sage?“

Nachdem die Kinder aus dem Haus sind:

„Jetzt fängt er auch noch an, Mails zu checken…“

Zwanzig Minuten später:

„Noch immer an den Mails…Und zuhören will er mir auch nicht…Und mit dem soll ich einen Tag weggehen…“

Zehn Minuten später:

„Er versteht mich ja überhaupt nicht mehr. Kommt davon, wenn man nie Zeit hat füreinander. Das kann ja heiter werden heute…“

Noch einmal fünf Minuten später:

„Interessiert er sich überhaupt noch für mich?“

Kurz vor der Abfahrt:

„Dann versuchen wir es halt. Aber ich hab nicht die geringste Lust zum Reden.“

Im Auto:

„Diese Fahrt wird endlos…“

Etwas später im Auto:

„Okay, ich glaube, er will wirklich wissen, was ich von dieser Sache halte. Na, dann rede ich eben doch…“

Nach halber Fahrt:

„Wie hat der mich bloss dazu gebracht, mein Innerstes nach aussen zu kehren? Vielleicht wird es heute doch nicht so schlecht.“

Kurz vor der Ankunft am Ziel:

„Habe ich jetzt tatsächlich gelacht über seinen Witz?“

Beim Aussteigen:

„Hmmmm, er nervt plötzlich gar nicht mehr.“

In der Sauna:

„Schon schön, jemanden an der Seite zu haben, vor dem man sich nicht zu verstellen braucht.“

Etwas später:

„Eigentlich doch ganz nett, so ein Tag zu zweit…“

Beim Mittagessen:

„Ach, ist das gemütlich…und wirklich schön, diese angeregte Unterhaltung.“

Am Nachmittag:

„Himmlisch, diese Ruhe…“

Am späten Nachmittag:

„Ich will jetzt eigentlich gar nicht nach Hause. Wir haben uns doch eben erst wieder gefunden.“

Auf der Heimfahrt:

„Das müssen wir unbedingt bald wieder tun. Was bin ich froh, dass wir einander haben.“ 

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Gastfreundschaft?

Meine liebe Gastgeberin

Ich gestehe es ganz offen: Ich habe im Bett getrunken. Cola Zero, um genau zu sein. Aus der 5 Deziliter Flasche, die ich neben mir auf der Matratze stehen hatte. „Wie kommen Sie auf die Idee, im Bett zu trinken?“, fragen Sie mich. Nun, es fällt mir nicht leicht, dies zu erklären, denn mit meiner Erklärung setze ich meinen Ruf, nie, aber auch wirklich gar nie zu frieren, aufs Spiel. Aber eine Erklärung muss ich Ihnen abgeben, denn sonst verzeihen Sie mir nie, dass das Zimmermädchen heute das Bett noch einmal hat machen müssen. Sie haben mir heute nach dem Frühstück ja klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen darf. Also, es war so:

Wie Sie sich vielleicht erinnern, stand gestern, als Sie mich in mein Zimmer führten, die Balkontüre sperrangelweit offen und es war saukalt im Zimmer. „Kein Problem“, sagten Sie, „ich drehe die Heizung voll auf, dann wird es schnell wieder warm.“ „Machen Sie sich nichts draus“, sagte ich, als ich sah, wie peinlich Ihnen dieser Sache war, „Ich friere nie.“ Darauf drehten Sie die Heizung auf und ich machte mich in der Stadt auf Nahrungssuche. Als ich zurückkam, war es noch immer saukalt im Zimmer, obschon die Heizung zufrieden surrende Geräusche von sich gab. Ich ging also noch einmal in die Stadt, was nicht weiter schlimm war, denn ich hatte ohnehin vergessen, Zahnpaste zu kaufen. Leider herrschten danach noch immer arktische Temperaturen im Zimmer, aber ich wollte jetzt schreiben, stricken und später vielleicht einen englischen Kostümschinken schauen, also blieb ich, zog mir ein Paar warme Bettsocken, Pulswärmer und meine Jacke über, kochte mir einen Kaffee und machte mich an die Arbeit. Leider musste ich bald einmal feststellen, dass all dies nicht ausreichte und dass ich unter gewissen Bedingungen durchaus in der Lage bin, zu frieren.

Ich hatte also gar keine andere Wahl, als mich in voller Montur unter die warme Bettdecke zu verkriechen, was ich anfangs brav am Tisch tat. Aber sehen Sie, liebe Gastgeberin, tippen mit Daunenduvet über den Schultern ist nicht ganz einfach und auch nicht ganz ungefährlich, wenn man neben den Computer als zusätzliche Wärmequelle eine brennende Duftkerze steh… oh Mist, davon wollte ich Ihnen ja gar nichts erzählen. Sonst schimpfen Sie mich morgen beim Frühstück wieder aus. Vergessen Sie also bitte die Duftkerze ganz schnell wieder… Also, wie gesagt, tippen mit Daunenduvet über den Schultern ging schlecht, also zog  ich mich mit allem, was ich anhatte, in mein Bett zurück und dort wurde mir endlich so angenehm warm, dass ich wieder daran denken konnte, meinem Körper Flüssigkeit, die nicht siedend heiss ist, zuzuführen. Und da ist es eben passiert mir dem Cola-Fleck auf dem Leintuch.

Ich flehe Sie auf den Knien an, mir diesen Fehltritt zu verzeihen und wo wir schon bei den Fehltritten sind, verspreche ich Ihnen hoch und heilig, morgen beim Frühstück kein einziges Tröpfchen Milch zu verschütten. Ich weiss, anständige Menschen verschütten keine Milch, aber wissen Sie, mit halbgefrorenen Gliedern bin ich noch ein kleines bisschen ungeschickter als gewöhnlich.

Ach so, und falls Sie wissen möchten, warum ich wegen der Heizung nichts gesagt habe: Spätestens, als ich merkte, dass es im Bad, in der Küche und im Frühstücksraum noch kälter ist als in meinem Zimmer, war mir klar, dass Sie der Sache ohnehin machtlos gegenüberstehen. 

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Bern

Der Geldautomat ist nicht mehr dort, wo er früher war.
Die Buchhandlungen heissen jetzt alle gleich.
Die alten, heruntergekommenen Gebäude, die man von Zugfenster aus sehen konnte, sind am verschwinden. An ihrer Stelle entstehen moderne, kühle Bauten.
Der Bioladen ist nicht mehr.
Die Markthalle auch nicht mehr.
Der Bahnhof ist jetzt eher ein Shopping-Center.
Die Sandwiches, die ich mir jeweils vor der langen Heimfahrt von der Uni kaufte, schmecken heute anders, aber heute müsste ich mir vor der Heimfahrt auch kein Sandwich mehr kaufen, denn der Zug fährt jetzt fast immer im Tunnel und ist viel schneller am Ziel als früher.
Die schier endlosen Brücken sind jetzt mit Sicherheitszäunen versehen, damit sich keiner in den Tod stürzen kann. Darum ist mir jetzt noch mulmiger, wenn ich hoch über der Aare unterwegs bin. Die Zäune zwingen mich dazu, darüber nachzudenken, weshalb man sie angebracht hat und dann wird mir übel.

Bern ist noch immer wunderschön, noch immer fühle ich mich hier ein wenig zu Hause, obschon mir alles ein wenig kühler erscheint als früher, perfekter und distanzierter, als ich es von früher in Erinnerung habe. Meine zwei freien Tage, die ich ganz alleine mit meinen Gedanken hier verbringe, geniesse ich natürlich trotzdem.

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Aber natürlich braucht es das

Vor vielen Jahren diskutierte ich einmal mit einer befreundeten Mutter darüber, ob es überhaupt sinnvoll sei, wenn Eltern sich Auszeiten nehmen. „Aber natürlich ist es sinnvoll“, sagte ich. „Da wäre ich mir nicht so sicher“, meinte die andere Mutter. „Wenn du dir drei Tage lang Luxus und Entspannung gönnst, fällt dir der Alltag danach umso schwerer. Besser, man beisst auf die Zähne und verzichtet auf Auszeiten, sonst ist man nachher nur noch frustrierter.“ „Aber man kann doch nicht jahrelang auf die Zähne beissen! Wie soll man bloss den Familienalltag überstehen, wenn man nie ausspannt?“, protestierte ich, doch meine Mitmutter blieb bei ihrer Meinung. Und ich bei meiner. 

Heute früh stand ich lustlos in der Küche, betrachtete den mit Brosamen übersäten Fussboden und dachte an diese Diskussion zurück. Noch keine vierundzwanzig Stunden vorher hatte man mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen, aber es kam mir vor, als lägen Jahre zwischen gestern und heute. Alles, was ich gewöhnlich mehr oder weniger nebenbei erledige, kostete mich eine gewaltige Überwindung, die alltäglichen Streitereien fielen mir noch mehr auf die Nerven als gewöhnlich. Ob sie doch Recht gehabt hatte, die andere Mutter? Wäre es vielleicht doch besser, sich mit Volldampf durch den Alltag zu kämpfen und sich dann auszuruhen, wenn die Kinder aus dem Haus sind?

Ich liess mir die Geschehnisse der vergangenen Tage noch einmal durch den Kopf gehen, dachte an die ungestörten, tiefschürfenden  Gespräche mit unseren Freunden zurück, an das intensive Empfinden von Hitze und Kälte in der Sauna, an die unzähligen Geschmackserlebnisse, die ich wieder einmal ganz bewusst hatte geniessen dürfen, an den tiefen, erholsamen Schlaf. Dann erinnerte ich mich an das pure Glück, das ich empfand, als wir bei unserer Heimkehr unsere Kinder in die Arme schliessen durften, an die tiefe Freude, als mir Luise gestern seit sehr langer Zeit wieder einmal sagte, dass sie mich lieb hat, an die besondere Nähe als ich gestern Abend an Prinzchens Bett sass und Schlaflieder sang. 

Ja, es fiel mir schwer, heute wieder in den Alltag einsteigen zu müssen und ich war auch ziemlich frustriert darüber, dass „Meiner“ und ich trotz guter Vorsätze so schnell wieder im alten Trott landen. Dennoch bin ich dankbar für jeden Augenblick unserer kostbaren Auszeit. Und auch für den Moment, als wir alle sieben wieder gemeinsam am Tisch sassen. Darum würde ich meiner Mitmutter heute noch das Gleiche sagen wie damals.

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Fast schon wie früher

Da bin ich also wieder, bestens ausgeruht, mit zahlreichen guten Vorsätzen ausgerüstet – früher ins Bett, weniger Koffein, mehr Grüntee, mehr Gelassenheit, mehr Geduld und weniger Stress – und bereit, wieder meinen Teil zum Familienleben beizutragen. Also morgens um vier mit „Meinem“ das Prinzchenbett von Katzenkot befreien, Weihnachtsmenü aus dem Ärmel schütteln, überdrehte Kinder beruhigen, Baum schmücken, Playmobil zusammenbauen – was halt so dazugehört, wenn man einen Tag vor Heilig Abend nach Hause kommt. Nun ja, das mit dem Katzenkot ist zum ersten Mal passiert, aber das Prinzchen zeigte sich verständnisvoll. Die Katzen hätten eben Angst gehabt, ihr Geschäft in der Katzenkiste im dunklen Wohnzimmer zu verrichten. Im Kinderzimmer war es zwar genauso dunkel, aber lassen wir das wenig festliche Thema für heute.

Bereits jetzt ahne ich, dass der Familienalltag sich meinen Vorsätzen gegenüber wenig sensibel zeigen wird, aber ich kann gut damit leben. Wenn ich bedenke, dass wir vor zwei Monaten noch fürchteten, „Meiner“ werde vielleicht nie wieder ganz sich selber sein, dann bin ich einfach nur dankbar, dass es bei uns schon fast wieder so ist wie früher und dass wir unser übliches turbulentes, möchtegern-feierliches Weihnachtsfest mit hier einem Stimmungseinbruch und dort einem Glanzlicht feiern durften.

Frohe Weihnachten allerseits!

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