Gesetzestreu

Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz für Kleinkinder zu geben, das da heisst: Du darfst den ganzen Tag über quengelig und ungeduldig sein, aber pausenlos schreien, bis sich deine Eltern und das Au-Pair ernsthafte Sorgen machen, darfst du erst fünf Minuten nach Ladenschluss der örtlichen Apotheke. Oder drei Minuten nachdem in der Kinderarztpraxis keine Anrufe mehr entgegengenommen werden. Oder in der Nacht von Samstag auf Sonntag.

Ich weiss nicht, wie andere Kinder es damit halten, aber unsere legen in diesem Bereich eine Gesetzestreue an den Tag, die jeden Gesetzeshüter zum Strahlen bringen würde. So zum Beispiel heute das Prinzchen. Den ganzen Tag sabberte er sich die Kleider nass und wer ihm zu nahe kam, wurde mit einem entrüsteten „Hööö uff!“ angeraunzt. Nichts Aussergewöhnliches also, das Kind wird wohl am Zahnen sein, dachten das Au-Pair und ich. Dann aber, pünktlich zum Ladenschluss der Apotheke, fing er an zu heulen. Und „Aua! Weh!“ zu brüllen. Und sich immer wieder an den Hals zu greifen. So lange, bis wir alle, Zoowärter eingeschlossen, anfingen, uns Sorgen zu machen um ihn.

In solchen Momenten weiss man ja nie so recht, wie man reagieren soll. Rennt man zur Notfallapotheke, werfen sie einem vor, man hätte schon längst zum Arzt gehen sollen. Geht man zum Notarzt meint er nur, wegen dieser Kleinigkeit hätte man nicht kommen müssen. Begibt man sich gar ins Spital, hört das Kind, kaum liegt es nach Stunden des Wartens auf dem Behandlungstisch, mit dem Geheul auf und ist wieder quietschfidel. Nach langem Hin und Her entschlossen wir uns dazu, es mit der neuen Bahnhofapotheke im Nachbarort zu versuchen. Die hat abends bis zehn Uhr offen, also würden wir ganz bestimmt niemanden ausserhalb seiner gewohnten Arbeitszeit stören. Und sollte sich das Problem als schwerwiegender herausstellen, würde man uns dort schon befehlen, sofort zum Arzt zu gehen.

Die Bahnhofapotheke stellte sich dann fürs Erste auch als die richtige Lösung heraus. Das Prinzchen weigerte sich zwar standhaft, weiter zu brüllen, damit wir in seinen Mund hätten schauen können, aber kleine Bläschen an der Zungenspitze und im Mundwinkel liessen die Apothekerin darauf schliessen, dass da wohl schmerzstillendes Zahngel und etwas Entzündungshemmendes angebracht wären. Womit das Prinzchen ziemlich zufrieden war und bald schon friedlich einschlief.

Doch wenn ich sein erneutes Gebrüll vor ein paar Minuten richtig interpretiere, scheint er zu spüren, dass der Ladenschluss der Bahnhofapotheke naht. Mal schauen, wie lang die heutige Nacht wird…

Nachlese

– Zwei sehr grosse, sehr schwere und sehr stinkige Abfallsäcke die Treppe herunter geschleppt
– Ein sehr schmutziges und sehr trauriges Prinzchen getröstet, weil es nicht mitkommen durfte, um einen sehr sauberen und sehr fröhlichen Zoowärter in der Spielgruppe abzuliefern
– Gejubelt, weil der Ständerat die Einsicht hatte, dass Kinderkrippen auch in den kommenden Jahren vom Staat unterstützt werden sollen. Pläne geschmiedet, wie wir so rasch als möglich das Gesuch stellen können, damit unser Familienzentrum auch davon profitiert
– Dem Au-Pair einen Crash-Kurs im Risottokochen erteilt, obschon sie dies wahrscheinlich auch ohne Crash-Kurs geschafft hätte
– Ein sehr schmutziges und sehr trauriges Prinzchen getröstet, weil es nicht mitkommen durfte, um einen nicht mehr ganz so sauberen und sehr müden Zoowärter von der Spielgruppe abzuholen
– Den Auftrag erteilt, dass wir nächste Woche eine neue Heizung bekommen weil uns ja so langweilig ist und wir ganz dringend mal wieder ein wenig Action im Haus haben müssen
– Zur Kenntnis genommen, dass sowohl Karlsson als auch Luise der Meinung sind, dass das Menü bei Nachbars heute ansprechender ist als zu Hause, weshalb sie nicht mit uns essen werden
– Ein Mittagessen lang den FeuerwehrRitterRömerPiraten und den Zoowärter davon abgehalten, einander die Köpfe einzuschlagen, weil sie einfach nicht damit klar kamen, dass wir ausnahmsweise nur zu viert am Tisch waren und deswegen die Auswahl an Streitpartnern arg eingeschränkt war
– 53 Viertklässler mit einem Vortrag zum Thema „Wie entsteht ein Buch?“und einem kurzen Werbespot für „Leone & Belladonna“ beglückt  und darüber gestaunt, wie wissbegierig diese Kinder doch sind
– Nach zwei sehr spannenden, erfrischenden Schulstunden  ein weiteres Mal gestaunt, weil man danach so ausgelaugt ist, als hätte man den Frühlings- und den Herbstputz an einem Stück erledigt
– Mich seeeeehr tief vor „Meinem“ verneigt, weil er es nicht nur schafft, seit zwölf Jahren ein engagierter Lehrer zu sein, sondern danach auch noch fast immer die Nerven hat, sich auf seine eigenen fünf Kinder einzulassen
– Vor einem riesigen Berg unerledigter Arbeit kapituliert, weil an einem unterbrochenen Bürotag einfach nichts mehr zu schaffen ist und weil das Telefon ohnehin alle drei Minuten klingelte
– Ausmalbilder ausgedruckt, weil Computer & Drucker sonst beleidigt gewesen wären, dass man sie an einem Bürotag einfach so links liegen lässt. Und natürlich auch, weil der FeuerwehrRitterRömerPirat schon so lange darauf gewartet hat
– Mich auf dem Weg zu Luises Ballettstunde im Dorf, in dem ich seit elf Jahren lebe, so heillos verfahren, dass Luise beinahe zu spät gekommen wäre. Und das alles nur, weil ich so sehr in Gedanken vertieft war, dass ich die falsche Abzweigung erwischt habe
– Auf dem Heimweg von der Ballettstunde noch schnell mit Luise Käse in einer runden Schachtel gekauft, weil sie die Schachtel für den Werkunterricht braucht. Den Laden mit drei Käseschachteln verlassen, weil Luise nicht mehr wusste, wie gross sie sein muss. Wer den Münsterkäse essen wird, weiss ich nicht. Aber wir mussten ihn nehmen, weil Luise darauf bestand, dass seine Schachtel die perfekte Grösse hat.
– Den Monsterwocheneinkauf vom Lieferanten in Empfang genommen und mir angehört, wie erschöpft der Chauffeur nach einem langen Arbeitstag ist
– Auf der Treppe beinahe hingefallen, weil „Meiner“ mir mit einem Bier in der Hand entgegengerannt kam, als ich Taschen hochschleppen wollte.  Das Bier war übrigens für den übermüdeten Lieferanten, nicht für mich. Ich trinke kein Bier
– Dem Zoowärter „Is Muerters Stübeli“ gesungen
– Karlsson dazu bewegt, sich wieder einzukriegen, nachdem „Meiner“ so unverschämt gewesen war, ihn darum zu bitten, die Farbstifte im Garten zu holen
– Mich nach den Abendessen noch einmal aufgerafft, um zur Kleinguppe zu fahren
– In der Kleingruppe intensiv über meinen grossen frommen Schaden geredet und danach noch intensiver über unser aller grosse Frustration mit der Volksschule geklönt
– „Meinem“ eine gute Nacht gewünscht
– Eine Nachlese des Tages geschrieben und dabei gedacht „Wen interessiert das denn schon?“
– Den Post aus lauter Gewohnheit dennoch veröffentlicht

Déformation professionelle

Was haben wir damals gelacht, als meine älteste Schwester ihrem Mann, als er zur Arbeit gehen wollte, noch Nuschi und Schoppenflasche in die Hand drücken wollte. Damit auch Deutsche Leser mitlachen können, sei gesagt, dass es sich bei einem Nuschi um ein Schmusetuch und bei der Schoppenflasche um ein Babyfläschchen handelt. Und nicht etwa, wie unser Au-Pair neulich anmerkte, um ein Feierabendbier. In der Schweiz ist der Schoppen nämlich den Babys vorbehalten. Nun, wie dem auch sei, wir damals noch Kinderlosen fanden, unsere Schwester sei ganz schön durchgeknallt und bräuchte vielleicht mal wieder einen Szenenwechsel.

An dieses hochnäsige Urteil wurde ich heute Morgen mal wieder erinnert, als das Au-Pair sich und das Prinzchen ausgehfertig machte. Das Prinzchen war schon geputzt und gestriegelt – bis auf die Überreste seiner laufenden Nase, die er sich einfach nicht wegmachen lassen will, sondern lieber mit Stolz zur Schau trägt – und auch das Au-Pair musste sich nur noch eine Jacke anziehen. Während wir noch kurz den weiteren Ablauf des Tages besprachen und ich mich mit irgendwelchem Kleinkram beschäftigte, quälte sich das Au-Pair mit einem verklemmten Reissverschluss ab. Was in meinem Kopf offenbar sofort Alarm auslöste: „Achtung Achtung! Verklemmter Reissverschluss! Sofort helfend eingreifen, sonst kommt das Kind zu spät zur Schule. Oder schlimmer noch, es kriegt einen Tobsuchtanfall…“ Dass da vor mir kein Kind sondern eine äusserst selbständige junge Frau steht, wurde meinem Gehirn erst gemeldet, als ich schon die helfende Hand ausgestreckt und ein mütterliches „Soll ich dir helfen?“ ausgesprochen hatte.

Zum Glück hatte der Reissverschluss inzwischen seine Verklemmtheit abgelegt, sonst wäre unser armes Au-Pair in den Genuss einer Reissverschluss-Rettungsaktion à la Mama Venditti gekommen. Und die, so muss ich zu meiner Schande gestehen, enden meistens damit, dass der Reissverschluss im Eimer ist.

Zehn Merkmale eines guten Au-Pairs

Du weisst, dass du das richtige Au-Pair eingestellt hast, wenn…..

… du beim Monsterwocheneinkauf die 18 Milchflaschen nicht mehr einzeln ins Auto stellen und zu Hause einzeln die Treppe hochschleppen musst, weil endlich jemand dafür sorgt, dass genügend Einkaufstaschen mitkommen.

… du auf einmal ein Nuggi-Depot in der Küche hast, so dass du diese elenden Schnuller nicht immer suchen musst.

… dir bei der Menüplanung nicht vorgeschlagen wird: „Mach doch mal Hamburger mit Pommes. Oder Chicken Nuggets. Oder wie wär’s mit Hot Dogs?“

… dir bei der Menüplanung vorgeschlagen wird: „Wollen wir mal diese gebratenen Nudeln mit viiiiieeeeel Gemüse kochen? Die sehen lecker aus…“

… du mit Luise, Prinzchen und Au-Pair einen völlig entspannten Ausflug nach Bern machst und dabei nicht ein einziges Mal bei einem dieser absolut billigen, doofen Tussi-Kleiderläden stehen bleiben musst.

… das Au-Pair bei genau den Shops ins Schwärmen gerät, wo du auch selber kaum mehr den Ausgang findest.

… du nur kurz die Augen verdrehen musst und das Au-Pair weiss, über wen du gerade lachen möchtest, es aber nicht tun darfst, weil sonst Luise lauthals ruft: „Schau mal Mama, die hat aber doofe Schuhe an!“

… du dir nicht anhören musst, dass „meine Mama das aber viel besser im Griff hat“ als du.

… es dem Zoowärter egal ist, ob Mama oder das Au-Pair ihm den Hintern sauber macht.

… du herausfindest, dass du dir bei La Redoute soeben die gleichen Schuhe bestellt hast, wie das Au-Pair sich vor einiger Zeit gekauft hat. Bloss dass deine pink sind und ihre hellbraun.

Bilderbuchtag

Ja, auch die gibt es hier. Selten zwar, aber dafür sind sie umso schöner.

Die Tage, an denen Luise und das Tageskind so sehr in ihr Puppenspiel vertieft sind, dass das Tageskind gar nicht erst auf den Gedanken kommt, seine Mama zu vermissen.

Die Tage, an denen Karlsson fast ganz ohne Mamas Hilfe Zimtwecken backt – unser Karlsson isst die Dinger zum Glück nicht nur in rauhen Mengen, er macht sie auch in einer Menge, dass die ganze Familie davon satt wird – und einen Hefeteig zustande bekommt, der so schön glatt und weich ist wie ein frisch gewaschener Babypo.

Die Tage, an denen der Zoowärter und der FeuerwehrRitterRömerPirat den Altweibersommer auf der Schaukel geniessen und so laut singen, dass ich aus lauter Gewohnheit panisch in den Garten renne, weil ich meine, einer sei am Heulen.

Die Tage, an denen der FeuerwehrRitterRömerPirat sagt: „Mama, ich möchte einen Zvieri essen. Haben wir etwas, was nicht zu süss ist?“ Und als ich ihn frage, ob er nicht einen Pfirsich und ein paar Trauben essen möchte, die Antwort bekomme: „Nein, in den Früchten drin hat’s ja auch Zucker. Ich meine etwas, was die Zähne überhaupt nicht kaputt macht.“

Die Tage, an denen Karlsson und Luise alleine und ohne sich zu streiten ins Dorf ziehen, um Butter und Kardamom – „und Hagelzucker Mama, den Hagelzucker dürfen wir auch nicht vergessen!“ – zu kaufen. Und wenn man ihnen erklären will, wo sie alles finden, bekommt man die folgende freundliche Antwort: „Wir finden uns schon zurecht. Du musst uns nicht alles erklären. Und wenn wir etwas nicht finden, dann fragen wir eben.“

Die Tage, an denen das Au-Pair mit dem frisch ausgeschlafenen und fröhlichen Prinzchen loszieht, um seine Herbstgarderobe einzukaufen.

Die Tage, an denen ganz unerwartet ein ausgedehnter Mittagsschlaf drin liegt.

Die Tage, an denen „Meiner“ sich auf dem Dach der Garage eine Stunde lang in die Zeitung vertiefen kann, ohne nur einmal von einem quengelnden Kind gestört zu werden. Und was daran fast noch erstaunlicher ist: Auch ich, die ich in dieser Zeit eigentlich die Aufsicht hätte, werde nicht von quengelnden Kindern gestört, sondern höchstens von äusserst zufriedenen kleinen Vendittis hin und wieder um ein Sandwich oder um einen Rat gebeten.

Die Tage, an denen man trotz all den Streitereien, Trotzanfällen und „Ich will jetzt aber und zwar sofort!!!!!“, die man in den vergangenen Jahren miterlebt hat, wieder einmal glaubt, dass Bullerbü kein Hirngespinst, sondern eine Zusammenfassung aller Sternstunden einer Kindheit ist. So ganz nach dem Motto: „Das Gute behaltet…“

Von mir aus dürften die Tage öfters so sein.

Kleiner Nachtrag: Wenn dann auch noch Karlsson und Luise vom Einkauf einen himmlisch duftenden Herbststrauss mitbringen, den sie auf dem Heimweg gepflückt haben,  dann muss ich mich in den Arm kneifen. Bin ich wach? Träume ich? Oder bin ich, ohne es zu merken, in die Dreharbeiten für einen Heimatfilm geraten?

Zwischenbericht aus der Betreuungswüste

Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich mit der Kinderbetreuungswüste Schweiz in Berührung komme. Immerhin haben „Meiner“ und ich schon Stunden am Telefon verbracht, um herauszufinden, ob es irgendwo jemanden gäbe, der uns dabei helfen könnte, aus dem Sumpf zu kommen. Zum Beispiel damals, als ich mit dem Zoowärter im neunten Monat schwanger war und mir ein Ikea-Möbel auf den Fuss fallen liess. Der Zeh war futsch, die Mama lag flach und der Haushalt geriet aus den Fugen. Und ausser der Grossmama im Haus, die eigentlich schon längst den Ruhestand geniessen sollte, niemand da, der den Laden hätte schmeissen können. Weil in der Schweiz solche Notfälle nicht vorgesehen sind. Oder als ich von zu Hause aus zu arbeiten begann und feststellen musste, dass Kinderbetreuung für unsereinen schlicht unbezahlbar ist, es sei denn, wir würden ein Au-Pair anstellen. Was gar nicht so einfach ist, da Au-Pairs, die mit fünf kleinen Vendittis klarkommen, dünn gesät sind. Inzwischen haben wir ja das perfekte Au-Pair gefunden, aber mir graut schon heute vor dem Tag, an dem sie uns wieder verlassen wird und wir uns auf die Suche nach einer neuen Lösung machen müssen.

Das also sind einige der Erfahrungen, die ich persönlich mit der Betreuungswüste Schweiz gemacht habe. Seitdem ich mich aber aufgemacht habe, um mit einigen Frauen der Misere zumindest bei uns im Dorf ein Ende zu setzen, erfahre ich täglich, dass „Meiner“ und ich bei Weitem nicht alleine sind in dieser Wüste. Hier eine Mama, die ganz dringend einen Babysitter sucht, damit sie hin und wieder ein paar Stunden Schlaf bekommen kann, da eine neu zugezogene Familie, die sich erstaunt die Augen reibt, weil man in Schönenwerd die Kinder offenbar nicht auswärts betreuen lassen kann, es sei denn, man habe das Glück, eine der wenigen Tagesmütter zu kennen oder man sei mit einer hilfsbereiten (Schwieger)mutter gesegnet. Dann wieder ein Anruf einer verzweifelten Frau, die erst seit kurzer Zeit in der Schweiz lebt und die ganz dringend auf eine Arbeit angewiesen wäre, die sie sich aber nicht suchen kann, solange sie nicht weiss, wo ihre Kinder während ihrer Abwesenheit untergebracht werden sollen.

Die Anfragen gehen mir an die Nieren. Zum einen, weil ich zu gut weiss, wie man sich als Mama fühlt, wenn Anspruch und Realität zu weit auseinander klaffen. Zum anderen, weil es mich masslos ärgert, dass man hierzulande zu lange aus ideologischen Gründen darauf verzichtet hat, sinnvolle Lösungen zu finden, damit Kinder nicht sich selbst überlassen bleiben, wenn Mütter arbeiten müssen oder –  man stelle sich so etwas Schreckliches vor – gar arbeiten wollen. Am meisten aber machen mir die Anfragen zu schaffen, weil ich weiss, dass ich trotz all der Arbeit, die wir geleistet haben, noch immer sagen muss: „Ich werde mich nach Kräften darum bemühen, eine Betreuungsperson zu finden. Aber im Moment ist es wirklich nicht so einfach.“ Viel lieber wäre es mir, wenn ich jetzt schon sagen könnte: „Bringen Sie Ihr Kind doch einfach zu uns ins Familienzentrum.“ Klar, uns trennen nur noch wenige Monate von unserem Ziel. Aber weil ich weiss, dass ein paar Monate sehr sehr lang sein können, wenn eine Mama Hilfe braucht, bin ich jedes Mal frustriert, wenn ich jemanden auf nächstes Jahr vertrösten muss. Und dann muss ich mir jeweils fast die Zunge abbeissen, um nicht zu sagen: „Bringen Sie doch das Kind solange zu mir.“

Denn beides geht nun wirklich nicht: Ein Familienzentrum aufbauen und die Kinder betreuen, die dereinst das Zentrum mit Leben füllen sollen.

Artgerechte Au-Pair-Haltung

Zum Glück haben wir uns gestern gemeinsam mit dem Au-Pair noch einmal dieses Vertragswerk mit dem poetischen Titel „Normalarbeitsvertrag für Arbeitnehmer im Hausdienst“ angeschaut. Sonst hätten wir wieder alles falsch gemacht. Besonders im Abschnitt B) Entlöhnung, §9.3 werden da ein paar ganz heikle Punkte angesprochen: „Der Naturallohn besteht aus Kost, Logis, Wasch – und Badegelegenheit sowie Pflege der Wäsche. Das Essen muss gesund und ausreichend sein, der allgemeinen Führung des Haushaltes entsprechen und zu geregelten Zeiten gegeben werden…“

Nun, dann müssen wir wohl damit aufhören, unser Au-Pair mit Fastfood vollzustopfen, während der Rest der Familie Vollwertkost bekommt. Und eins auf die Finger geben dürfen wir ihr auch nicht mehr, wenn sie sich unserer Meinung nach zuviel schöpft. Der Mustervertrag in Anlehnung an die „vom Ministerkomitee des Europarates am 18. Januar 1972 gebilligten Fassung“ geht gar noch weiter: „Der Au-Pair-Beschäftigte nimmt an den gemeinsamen Mahlzeiten teil und erhält dasselbe Essen wie die Familienangehörigen…“ Ja, dann werden wir wohl in Zukunft auch nicht mehr sagen dürfen, dass gewisse Speisen nur für die Herrschaften vorbehalten sind.

Uns allen ist jedoch unklar, wie wir die beiden Vertragswerke miteinander in Einklang bringen sollen. Denn während am einen Ort verlangt wird, dass das Au-Pair an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnimmt, schreibt uns das andere vor, dass das Essen „zu geregelten Zeiten gegeben“ werden muss. Was doch ganz eindeutig danach klingt, als ob wir der jungen Frau das Essen jeweils in einem Blechnapf durch eine Klappe in der Zimmertür reichen müssen. Oder ist damit gemeint, dass wir ihr das Essen eingeben sollen, so wie einem kleinen Kind?

Wir waren alle ein wenig verwirrt und konnten uns nicht so recht vorstellen, wie wir die Sache handhaben sollen, ohne Probleme mit dem Arbeitsamt zu bekommen. Schliesslich haben wir beschlossen, uns völlig rebellisch zu verhalten: Das Au-Pair isst mit uns am Tisch, wenn sie will, darf sie ungesund essen, wenn sie Lust hat, weniger zu essen, dann weisen wir sie nicht zurecht, sie solle gefälligst „ausreichend“ essen weil alles andere vertragswidrig sei und wenn sie mal genug hat von uns allen, dann darf sie auch in ihrem Zimmer essen. Im Arbeitsvertrag werden wir dann wohl einfach schreiben: „Die Arbeitnehmerin darf zu jeder Zeit soviel essen wie sie will, wo sie will und wovon sie will.“

Alos ja, eine Einschränkung gibt’s noch: Auf dem Sofa wird erst gegessen, wenn die Kinder im Bett sind, sonst machen die das noch nach….

Machen wir uns doch nichts vor

Wir können dem Vollmond die Schuld geben, oder der Lehrerin, die zu viele Hausaufgaben aufgegeben hat, der Schulkameradin, die eine gemeine Bemerkung fallen gelassen hat oder wir können behaupten, das schlechte Wetter sei Schuld. Und wenn am nächsten Tag das Wetter besser, die Laune aber noch immer gleich mies ist, dann schieben wir die Schuld eben der Hitze in die Schuhe. Oder der grossen Müdigkeit. Oder dem Virus, das gerade die Runde macht. Egal, ob die Ferien erst gerade angefangen haben, oder ob sie schon wieder vorbei sind, egal, ob eine ungestörte Nacht hinter uns liegt, oder ob sämtliche Kinder von Albträumen geplagt wurden, egal, ob die Kinder zu viel Zucker in sich reingeschaufelt haben oder ob sie seit fünf Tagen nichts Süsses mehr angerührt haben, wir Eltern finden immer einen Schuldigen, den wir für die miese Laune unserer Kinder verantwortlich machen. Knallt einer die Tür, dann schütteln wir den Kopf und seufzen: „Immer dieser Schulstress…“, tritt einer den anderen aus lauter Wut gegen das Schienbein, murmeln wir etwas von: „Er hat wohl noch immer nicht überwunden, dass sein Geburtstag schon wieder vorbei ist“ und wälzt sich einer wegen der kleinsten Kritik heulend auf dem Fussboden, dann wissen wir ganz genau, dass dieses Verhalten nur durch einen Wachstumsschub oder  vielleicht auch durch einen akuten Eisenmangel hervorgerufen werden kann.

Klar, meistens haben die Kinder tatsächlich Gründe dafür, dass sie sich vollkommen daneben benehmen und es lohnt sich bestimmt, immer wieder nachzuhaken, sich dem Kind zuzuwenden und zu fragen, was ihm denn über die Leber gekrochen sei. Und häufig hat man tatsächlich ein paar Tage später, wenn die Ärztin eine Allergie diagnostiziert hat, oder das Kind wieder mal einen ausgedehnten Mittagsschlaf gemacht hat, ein Aha-Erlebnis und man weiss, was der Grund für das Gezeter und Geschrei war. Aber machen wir uns doch nichts vor: Es gibt Tage, an denen unsere Kinder einfach nur mies gelaunte kleine Monster sind, die noch nicht gelernt haben, dass man die Wut nicht an Mama, Papa, Au-Pair und Geschwistern auslässt, sondern an einem zu langsamen Computer, an einem Billett-Automaten, oder, wenn’s gar nicht anders möglich ist, an einem Autofahrer, der einem zu nahe gekommen ist.

Es gibt Au-Pairs, …..

….  denen kann man Kohlrabi in die Hand drücken und sie fragen nicht „Was ist denn das?“ sondern sie nehmen ein Rüstmesser zur Hand und machen sich daran, das Ding zu schälen und in Würfel zu schneiden.

…. denen kann man sagen, dass man jetzt Vollkornbrot backen möchte und sie rümpfen nicht die Nase, sondern beginnen zu strahlen, weil sie sich darauf freuen, anständiges Brot zu essen. Und dann machen sie sich mit Leidenschaft daran, das Korn zu mahlen.

…. denen kann man sagen, dass man jetzt eine Zeit lang lesen möchte und die fassen das nicht als Aufforderung auf, einem jetzt endlich über alle Details des letzten Liebeskummers zu berichten, sondern die schnappen sich selber auch ein Buch.

….. denen kann man zutrauen, dass die Kinder heil nach Hause kommen, auch wenn der Bus ohne Mama Venditti, aber mit Au-Pair und Kindern abgefahren ist, weil Mama Venditti und der Billettautomat sich mal wieder in die Haare geraten sind.

….. denen kann man sagen, dass die Kinder jetzt kein Eis mehr haben dürfen und dann bekommen die Kinder auch kein Eis, auch wenn Mama Venditti schon längst nicht mehr hinschaut.

…… bei denen das Bild, das sie im Internet abgegeben haben, mit der Realität übereinstimmt.

…… denen kann man sagen, dass man sie nach der Schnupperwoche sehr gerne einstellen würde, weil man merkt, dass die Chemie einfach stimmt.

Es geschehen doch tatsächlich noch Zeichen und Wunder….

Unvernünftig?

Ob das besonders klug war von mir? Bis Mitternacht mit der jungen Frau zu reden, die, falls wir einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen, unser neues Au-Pair werden könnte? Wo ich doch genau weiss, dass ich morgen 100 Muffins backen darf, dazu noch unzählige Käsefüsschen – vielleicht werden es auch Käsekrokodile oder Käselöwen, ich bin mir noch nicht ganz sicher – und ausserdem noch ein paar Accessoires passend zum Märchen der zertanzten Schuhe zu finden habe. Vor uns liegt ein langes Jugendfestwochenende und eigentlich müsste ich inzwischen wissen, dass ich alleine mit viel Schlaf verhindern kann, dass mir irgendwann, mittendrin, wenn meine Hilfe am dringendsten gebraucht wird, alles zu viel wird.

Aber was soll’s? Die Gespräche mit der jungen Frau waren einfach zu interessant, als dass ich sie hätte abkürzen wollen. Wenn das kein gutes Zeichen ist….